»Es muss ein kurzer Kampf gewesen sein«, murmelte ich. »Doch scheint es mir, als hätte Heinrich von Lübeck seinen Mörder gekannt. Warum sonst hätte er mit ihm reden sollen?« Laut sagte ich dann: »Was geschah danach?«
Jacquette schlug ein Kreuz. »Der Domherr prügelte wieder auf mich ein, bevor ich etwas sagen konnte. Dann, und das schwöre ich bei der Mutter GOTTES und allen Heiligen der Kirche, verlor ich das Bewusstsein.«
»Meinst du, dass auch Nicolas d'Orgemont die beiden Gestalten und ihren Kampf gesehen hat?«
Die Schönfrau schüttelte den Kopf. »Als er mich schlug, da stand er mit dem Rücken zur Kathedrale. Er wandte Notre-Dame stets den Rücken zu, wenn er bei mir war. Er hatte mir einmal gesagt, er könne nicht zu einer Dirne gehen und dabei auf das Haus GOTTES blicken. Doch was geschah, nachdem mich meine Sinne verlassen hatten, das weiß ich nicht zu sagen.«
»Und die Gestalt, die du gesehen hast, nachdem du wieder bei Bewusstsein warst, jener Unbekannte, der sich am Körper des toten Heinrichs von Lübeck zu schaffen machte — die gab es tatsächlich?«, fragte ich, obwohl ich ihr sowieso schon glaubte. Jacquette nickte. »Ja, das ist wahr. Aber«, sie zögerte, »es war nicht derselbe Unbekannte, der ihn auch niedergestreckt hat.« Ich zuckte zusammen. »Nicht?«, keuchte ich. »Bist du dir da ganz sicher? Schwöre es!«
»Ich schwöre es bei meinem Seelenheil! Die Person, die Euren Bruder niederstreckte, war recht groß, vielleicht sogar größer als der Unglückselige, vielleicht aber auch nicht, das konnte ich nicht genau erkennen, aber dick war er nicht. Die zweite jedoch war massig wie ein Mastschwein.«
Ich blickte auf das verschlossene Gnadenbild und murmelte ein kurzes Gebet. »Wir suchen also zwei Unbekannte«, flüsterte ich dann, und es war mir, als legte sich mir ein neues, großes Gewicht auf die Schultern. Je länger Meister Philippe und ich suchten, desto weniger schienen wir zu finden. Oder nein: Wir fanden zwar Spuren, doch führte uns die Lösung eines Rätsels stets nur zum nächsten. Es war wie in der Theologie, wo die Behandlung eines Dogmas stets nur zum nächsten führte, das geklärt zu werden verlangte. Niemals, niemals war ein Ende abzusehen.
*
Es war Jacquette, die mich aus meinen Gedanken riss.
»Glaubt Ihr, Herr, dass mich der Teufel holen will wegen all meiner Sünden?«, fragte sie mich.
Vor wenigen Wochen noch hätte ich diese Frage bejaht, denn wo sonst als in der Hölle sollten Schönfrauen schon enden? Doch nun war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Hatte nicht selbst unser Herr Jesus Christus den Sündern verziehen? Cum autem perseverarent interrogantes eum erexit se et dixit eis qui sine peccato est vestrum primus in illam lapidem mittat. Waren es tatsächlich die Künste Satans, die Menschen verführten, Sünden zu begehen? Wer brachte denn Not und Hunger und Leid in die Welt, wenn nicht wir Menschen? Waren wir es nicht, die einander zur Hölle verdammten?
»Fürchte dich nicht«, antwortete ich ihr deshalb. »Der HERR ist stärker als der Teufel. Und weil dies so ist, wird es für jeden von uns immer einen Weg geben, dem Finsteren zu entkommen.« Da weinte Jacquette plötzlich. Es war ein hemmungsloses, unbeherrschtes - ich weiß kein anderes Wort als dieses —, hingebungsvolles Weinen.
Heiß und kalt wurde mir, als ich sie so sah. Hinübergehen und sie zur Tröstung in den Arm nehmen konnte ich nicht, das hätte zu viel Aufsehen erregt. So achtete niemand auf uns, denn obwohl Tränen aus den Augen der Schönfrau flössen wie ein Strom, gab sie dabei keinen Laut von sich.
»Meister Philippe hatte Recht, als er mich der Lüge bezichtigte. Es gibt keinen Vater, der Lastenträger war und früh verstarb. Und auch keine jüngeren Geschwister. Ich war ein Bauernmädchen in Rampillon«, flüsterte sie, als sie sich ausgeweint hatte. Ich ahnte, dass sie mir nun ihre Geschichte erzählen musste, auch wenn sie mich nicht darum gebeten hatte, ihr die Beichte abzunehmen — abgesehen davon, dass ich dies auch gar nicht hätte tun dürfen, denn Mönch war ich zwar, doch nicht als Priester ordiniert.
»In Rampillon«, fuhr Jacquette fort, »haben wir eine große Kirche der Templer, errichtet zu der Zeit, da sie noch nicht als Ketzer galten. Viele prächtige Grabplatten schmücken ihr Inneres, steinerne Ritter mit Helmen und Schwertern. Unter irgendeinem, so sagt man, liege der legendäre Schatz der Templer versteckt. Vielleicht ist es diese Geschichte gewesen, welche die Burgundischen letztes Jahr in unser Dorf gelockt hat, ich weiß es nicht.
Eines Morgens jedenfalls waren Landsknechte da und plünderten die Kirche, doch fanden sie wenig, das zu rauben sich lohnte. Da wurden sie sehr zornig und steckten unsere Häuser an.
Meinen Mann«, Jacquette redete jetzt so schnell, dass ich ihr Flüstern kaum mehr verstehen konnte, »meinen Mann zwangen sie, gleich vielen anderen Bauern, in eine leere Mehlkiste. Ihr kennt sie vielleicht, Bruder? Es sind hölzerne Kisten, so groß wie ein Sarg. Während er dort drinnen eingesperrt war, warfen mich einige Landsknechte auf den Deckel und taten mir Gewalt an. Während sie dies taten, da verhöhnten sie meinen Mann und riefen, er solle doch seine Frau retten, wenn er könne. Ich biss mir auf die Lippen, damit er zu ihren Hohnworten nicht auch noch meine Schreie ertragen musste. Später, ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen sein mochten, verschleppten die Landsknechte meinen Mann und einige andere Bauern. Wir sollten Lösegeld zahlen, wenn wir sie lebend wiedersehen wollten.«
Sie schwieg nun, erschöpft. Dann raffte sie sich mit müder Stimme auf: »Wir hatten doch nichts, unser Dorf war ja niedergebrannt worden, unsere Ernte zertrampelt oder geraubt von den Burgundischen. Wir gingen zum Kloster der Benediktiner, das nicht weit von Rampillon aufragt, doch die Mönche mochten uns nicht einen Sou geben. Sie würden für uns beten, sagten sie.
So mussten wir also die Frist verstreichen lassen, die uns die Landsknechte gesetzt hatten. Mein Mann und die anderen Bauern wurden an einer Eiche aufgehängt wie Verbrecher. Wir durften ihre Körper abschneiden und beerdigen, als die Landsknechte weitergezogen waren.«
Jacquette blickte auf die Kerzen, die vor dem Altar flackerten, doch ich glaube, dass sie deren Licht nicht sah, sondern ein ganz anderes Bild vor Augen hatte. Ein Bild, wie es wohl kein Künstler je wird malen können — und das ist sicherlich auch gut so. »Also ging ich nach Paris und wurde, was ich bin, Bruder. Denn was sollte ich sonst noch tun? Mein Dorf war zerstört — und meine Ehre hatte ich sowieso schon verloren.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Zu verwirrt war mein Geist, zu unsicher wären meine Sätze gewesen, um der Schönfrau Trost zuzusprechen. Durfte ich dies überhaupt? Was hätte ich ihr schon sagen können?
Schließlich war es Jacquette, die wieder das Wort ergriff. Sie musste lauter sprechen, denn inzwischen hatten die gläubigen Frauen vor dem Standbild der heiligen Anna ein neues Lied angestimmt, das machtvoll durch die Kirche hallte.
»Ich wünsche, dass Ihr eine Messe lest für Euren toten Mitbruder, dem ich nicht habe helfen können«, sagte sie. Sie hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, dass eine Messe sechzehn Sous kostet und ein Pfund Kerzen sieben. So viel habe ich nicht. Die Zeiten sind schlecht — vor allem jetzt, da jeder sich vor der Krankheit fürchtet und davor, bald vor dem höchsten Richter zu stehen. Da ist es sicherlich nicht gut, zu gestehen, dass man noch vor kurzem bei einer Schönfrau gelegen hat. So geben mir die Männer, die überhaupt noch zu mir kommen, nur zwei Sous — und leben muss ich ja schließlich auch von irgendetwas. Deshalb habe ich nur vier Sous gespart.« Sie beugte sich rasch vor und drückte mir, bevor ich mich dagegen wehren konnte, vier Kupfermünzen in die Hand. »Das sollte, so hoffe ich, für eine stumme Messe reichen. Bitte Bruder, ich flehe euch an!«
Ich zögerte. Es war Geld der Sünde, sie hatte es mir ja gerade selbst gestanden. Die Münzen brannten gleich Feuer in meiner Hand. Und doch: Sollte ich es verweigern? Sollte ich es wegwerfen als Ausfluss schändlicher Lust?