9
DIE LOCKENDE PFORTE DER HÖLLE
Der nächste Tag, der der heiligen Edeltraud geweiht war, sollte mich endgültig auf den Weg in die Verdammnis führen. Ich kniete zur Vesper in der Kirche, umgeben von meinen Mitbrüdern, doch meine Gedanken waren nicht die ihren. Als der Vorsänger im Responsorium die ersten Zeilen eines Psalms anstimmte, da sang ich den Kehrvers im Chor der Mönche.
Seit dem frühen Morgen war Meister Philippe verschwunden - er hatte das Kloster noch vor der Prim verlassen, wie mir der Portarius gestand. Wohin mochte er gegangen sein? Warum war er verschwunden? Ich war enttäuscht, dass er mir nichts gesagt hatte, wenn er es denn schon für notwendig erachtet hatte, auf meine Begleitung zu verzichten.
Während der Lesung aus der Heiligen Schrift durch einen Bruder - es war, so weit ich mich erinnern kann, eine Stelle aus dem Römerbrief—, lauschte ich nicht etwa diesen Worten, sondern dachte daran, dass der Inquisitor sich vielleicht auf eigene Faust aufgemacht hatte, um Jacquette zu suchen. Oder hatte etwas, das die Schönfrau mir verraten hatte, in ihm irgendeinen Verdacht erweckt? War er vielleicht gar nicht auf der Suche nach der jungen Dirne, sondern hatte sich zu jemand ganz anderem begeben? Zu wem?
Hymnus, Vers und Lobgesang erklangen im Hause GOTTES - doch ich, ich dachte nur daran, was ich nun unternehmen sollte. Wenn der Inquisitor Nachforschungen betrieb, warum sollte ich dies nicht auch wieder tun? War ich nicht selbst Inquisitor? Hatte uns nicht letztlich alles, was ich getan hatte, weitergebracht auf dem Weg zum Mörder unseres Mitbruders?
Der Florentiner Geldwechsler Pietro Datini hatte mich zum Juden geführt. Nechenja ben Isaak und seine Tochter hatten uns wieder auf Richard Helmstede und seine Kogge verwiesen. Jacquette hatte uns zudem gezeigt, dass wir nach zwei Unbekannten zu suchen hatten. War es denn so unwahrscheinlich, dass einer der beiden, nach denen wir suchten, Richard Helmstede sein mochte?
»PATER noster«, murmelten wir, doch ich dachte an Leas Botschaft vom Schiff im Sturm. Ich musste den Reeder aufsuchen — und ich durfte keine Zeit mehr vertun. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und aus der Kirche geeilt, doch selbstverständlich bezwang ich mich und betete weiter.
»Alma redemptoris mater« erscholl es nun. Endlich legte sich meine Verwirrung und Geistesabwesenheit. Ich sang den Hymnus mit und legte alle Kraft und Sehnsucht in meine Stimme. Oh ja, wie hoffte ich auf die Gnade der Muttergottes. Wie sehr sehnte ich mich danach, endlich, endlich eine Gewissheit zu erlangen in jenem finsteren Fall von Mord und Lüge, von Sünde und Täuschung! Nach der Vesper gesellte ich mich zu den Mitbrüdern, die auserwählt waren, noch an diesem Abend zum Volk von Paris zu predigen. Ich schlug gleich ihnen die Kapuze hoch und schritt als Teil ihrer Gruppe gemessen durch die Pforte hinaus. Der Portarius hielt mich nicht auf, keiner meiner Mitbrüder achtete auf mich. Jeder glaubte, dass auch ich zum Predigen eingeteilt worden war.
So folgte ich den Mönchen die Rue Saint-Jacques hinunter. Langsamer und langsamer wurde dabei mein Schritt: Aus der Mitte der Gruppe fiel ich unmerklich ans Ende zurück. Dann trennten mich wohl ein, zwei Ellen von den anderen und schließlich tat ich so, als müsse ich mir einen Stein aus meiner Sandale klauben. Ich lehnte mich an eine Hauswand, beugte mich zu meinem Fuß hinunter, richtete mich wieder auf — und war mit einem raschen Sprung in einer kleinen Quergasse verschwunden.
Auf Umwegen wanderte ich Richtung Seine, auf dass mich keiner meiner Mitbrüder zufällig erblickte. Ich musste langsam gehen, um nicht in Schweiß auszubrechen, denn es war heiß und schwül. Wie eine feuchte Decke lastete die Luft auf der Stadt, der Himmel hatte die Farbe von Milch angenommen. In den Gassen stank es mehr noch als sonst nach Fäulnis, Kot und nach dem Schimmel, der an feuchten Hauswänden in großen Flecken wucherte. Ich hätte gerne meine Kapuze zurückgeschoben, denn mein überhitzter Kopf schien mir zu kochen. Doch selbstverständlich behielt ich sie auf, um mich zu verbergen.
Glücklicherweise schien niemand auf mich zu achten. Vielmehr waren Arm und Reich, Pariser wie Fremde damit beschäftigt, überall auf Plätzen und Kreuzungen Äste und Scheite zu großen Stößen aufzuschichten. Die nächste Nacht war die Johannisnacht. Auch wenn die Angst vor der Seuche und vor unaussprechlichen Sünden umging, auf das Johannisfeuer wollte doch niemand verzichten. So gelangte ich unbemerkt über die Brücken der Seine bis zum Hafen. Dort blieb ich jedoch erschrocken stehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Ich sah Männer auf der »Kreuz der Trave«, Matrosen — und sie machten die Kogge fertig zum Auslaufen. Man musste kein Seemann sein, um das zu erkennen.
Einige Matrosen bestrichen die Außenseite des Rumpfes mit Teer, andere überprüften das Tauwerk, zwei nähten einen Riss im Segel, das ausgebreitet auf Deck lag. Ich sah Gernot, den Steuermann, der am Heck auf und ab schritt. Damit nicht auch er mich erblickte, versteckte ich mich schnell hinter einigen leeren Weinfässern, die am Rande des Kais standen.
»Der heilige Nikolaus allein mag wissen, wohin die segeln wollen«, hörte ich da eine krächzende Stimme hinter meinem Rücken. Erschrocken fuhr ich herum. Gegen einen Turm weiterer Fässer gelehnt, lag ein alter, von Wind und Sonne gezeichneter Mann im Schatten. Ich versuchte ihm gegenüber gar nicht erst zu leugnen, dass ich zur »Kreuz der Trave« hinübergestarrt hatte, denn der Alte musste mich beobachtet haben.
»Sag, alter Mann, spricht man im Hafen nicht über dieses seltsame Schiff?«, fragte ich ihn, denn ich hielt ihn für einen ehemaligen Lastenträger, der auch die Tage seines Lebenswinters noch am Hafen verbringen wollte.
Der Mann lachte. »Was glaubt Ihr wohl, Bruder! Die Männer zerreißen sich das Maul wie tollwütige Hunde - verzeiht meine Worte, ich bin kein gelehrter Mann, wie Ihr es ohne Zweifel seid, und lebe einfach und bescheiden.«
Ich verstand seine Anspielung und warf ihm ein Stück Brot aus meinem Beutel zu. »Geld habe ich nicht«, sagte ich etwas verlegen. »Das tut es auch«, antwortete der Alte. Er zerkrümelte das Brot zu kleinen Brocken, denn er hatte keine Zähne mehr. Dann stopfte er sie sich langsam und genussvoll in den Mund und ließ sie dort vom Speichel wässern, bis er den Brei schlucken konnte. »Ah«, sagte er schließlich, »das stärkt mir Herz und Seele. Diese Kogge also«, kam er endlich auf das Thema zurück, »verwundert nicht wenige, die hier arbeiten. Doch, ich schwöre es Euch, Bruder, niemand hat all die Tage, die sie hier schon im Hafen liegt, Genaueres über sie erfahren. Nichts hat sie in all der Zeit geladen, keinen Ballen Stoff, nicht einmal einen Sack Getreide. Doch vor drei Tagen haben die Matrosen angefangen, Vorräte zu kaufen, wie man sie für eine lange Seereise braucht: Zwieback, Salzheringe, Branntwein, Wasser in Fässern, viel Wasser.«
»Wohin mag der Kapitän bloß wollen?«, murmelte ich, mehr zu mir selbst, als zu dem Alten.
Doch der lachte. »Ihr seid der Dominikaner, Bruder, Ihr müsst das herausfinden. Seit den Geschichten von der schrecklichen Seuche, die irgendwo im Land wüten soll, sind wohl einhundert oder mehr Schiffe hier in Paris angekommen.
Seht Euch im Hafen um! In drei, vier, fünf Reihen liegen Kähne und Barken an den Kais. Kaum ein Schiffer hatte Fracht geladen — außer der auf zwei Beinen. Viele brachten Menschen mit, die vor der Seuche geflohen sind, doch niemand hat sich seither wieder hinausgewagt. Warum auch? Wer fährt freiwillig in ein Land, in dem der Teufel regiert?«