Als ich endlich verstanden hatte, was die beiden Unbekannten da taten, war ich noch erschrockener, als hätten sie miteinander gekämpft. Jetzt erst begriff ich, warum mich Klara Helmstede hier hineingezogen hatte.
Ich blickte sie an und sie musste wohl in meinem Gesicht den Ausdruck der Furcht gelesen haben. Sie hielt einen Finger an die Lippen und bedeutete mir so, zu schweigen. Dann drängte sie mich tiefer hinein bis ans Ende der Sackgasse.
Was sollte ich tun? Klara Helmstede stand zwischen mir und dem Ausgang der Gasse auf den Platz. Mein Mund war trocken, meine Hände zitterten, meine Beine wollten sich nicht rühren.
Sie warf mit einer achtlosen Geste den Umhang ab. Ihr blondes Haar hatte sich gelöst und floss nun auf ihre Schultern - zwei im Schimmer der fernen Johannisfeuer rötlich leuchtende Schleier, die ihr Gesicht umspielten. Klara Helmstede kam mir ganz nah und flüsterte: »Bruder Ranulf, wisst Ihr es nicht, obzwar Ihr doch so gelehrt seid? Das Gebot der Keuschheit gilt nicht in der Johannisnacht!«
*
Noch heute zittert meine Hand, da ich die Erinnerung an jene Nacht niederschreibe. An jene Nacht, da ich, hingesunken im Schmutz der Gosse, von Klara Helmstede lernte, welche Macht doch das Weib über den Mann hat. Oh ja, sie war erfahren in den Künsten der Lust und ich ergab mich ihren Küssen, wie ich mich nie zuvor einem Menschen ergeben hatte. Sie lehrte mich, dass es auch in dieser Welt einen Garten Eden gibt — und dass er nicht in fernen Ländern zu finden sei, sondern in der Umarmung einer Frau. Sie lehrte mich, dass man sündigen konnte, ohne auch nur an die Sünde zu denken, ohne Gewissensqualen und Not. Sie lehrte mich, dass ich bis zu jener Nacht nichts gewusst hatte vom Leben der Menschen, ja, dass ich mich nicht einmal selbst gekannt hatte.
Wir tranken einander wie zwei Verdurstende. Wir umklammerten uns wie zwei Ertrinkende. Ich atmete den süßen Duft ihrer Haut ein, Rosenwasser und Schweiß.
Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinander lagen, die Welt vergessend und vergessen von der Welt. Wir sprachen nicht mit Worten, sondern nur mit unseren Händen, mit denen wir unsere Leiber umfassten.
Irgendwann lagen wir Seite an Seite auf dem Straßenpflaster. Die Steine kühlten meine glänzende Haut, doch ich fröstelte nicht. Oben am schwarzen Nachthimmel war, im Rahmen der Hauswände, ein einziger Stern aufgegangen.
Dann spürte ich, wie sich Klara schweigend erhob. Rasch suchte sie ihre Kleider zusammen und streifte sie sich über. Ich wagte nicht, mich zu regen - aus Angst, irgendeinen Zauber zu zerstören. Erst als sie alle Gewänder angelegt und sich sogar den weiten Umhang übergeworfen hatte, richtete ich mich auf.
Sie beugte sich zu mir hinunter und küsste mich. Dann hauchte sie: »Ich werde dir eine Nachricht senden, wann und wo wir uns wiedersehen können, mein Geliebter.« Klara drehte sich um und eilte aus der Gasse.
Ich blickte ihr nach. Im rötlichen Schein der Johannisfeuer war sie wie eine Spukgestalt, die plötzlich vom Erdboden verschwand.
*
Ich lag noch eine Weile regungslos da und dachte an nichts. Doch nein, ich will nicht lügen: Ich erinnerte mich an Klaras Liebkosungen, ich formte mit meinen Händen ihren Körper nach, den ich vor kurzem noch umfasst hatte. Ich hatte eine Todsünde begangen — und doch reute mich nichts, nichts, nichts. Und so, als predigte ich zu mir selbst, sprach ich im Geiste die Worte aus der Heiligen Schrift: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.« Später warf ich meine Gewänder über, auch den grauen Umhang, den Klara mir gegeben hatte. Als ich aus der Sackgasse schlich, warf ich einen verstohlenen Blick auf jene Stelle an der Mauer, an der sich das andere Paar in Wollust umschlungen gehalten hatte, doch war das Straßenpflaster leer.
Als ich den Platz von Les Halles betrat, blieb ich erschrocken stehen. Noch immer loderten die Feuer hoch, ja höher vielleicht noch als zuvor. Wilder auch schien mir der Reigen der Tanzenden zu sein, lauter und stampfender die Musik der Vaganten. Ich wusste kaum, wohin ich meinen schamhaften Blick wenden sollte, denn viele Weiber und Männer hatten sich schon der Wollust ergeben. Doch hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, sich in den Schatten der Gassen zu verstecken. Sie frönten ihrer Lust vielmehr dort, wo sie gerade niedergesunken waren, mitten auf dem Platz und auf den größeren Straßen, die zu ihm führten. Neben den Unzüchtigen lagen Gestalten, die vom Wein niedergestreckt worden waren. Durch ihr Erbrochenes wateten Straßenhunde und Schweine und schleckten es auf. Ich schlug mir den Umhang vor das Gesicht. Der Rausch der Liebe war verflogen und auch die Sinnesverwirrung, welche der Wein in mir verursacht hatte. Ich wollte zurück ins Kloster - wenn ich auch nicht wusste, wie ich es bewerkstelligen sollte, unbemerkt in meine Zelle zu gelangen.
Durch Seitengassen entkam ich den Johannisfeuern und den Tanzenden bis zur Seine. Am morastigen Ufer sah ich mich um. Einige hundert Schritt entfernt brannten die Feuer auch hier. Doch dort, wo ich mich befand, war es düster und still. Ich hatte gehofft, dass endlich ein Regenguss die schwüle Luft klären würde — und auch mich reinigte, der ich den süßen Duft der Reedersgattin auf der Haut trug. Zwar grollte Donner in der Ferne, es leuchtete fahl am Himmel, doch gewittern wollte es nicht. Also entledigte ich mich an jener dunklen Stelle meiner Gewänder, taumelte vorsichtig einige Schritte am abfallenden Grund hinein in den Fluss und tauchte meinen Leib unter. Schaudernd, doch zugleich erfrischt und zumindest am Leib, wiewohl nicht an der Seele, gereinigt, schlich ich anschließend zurück. Meine Müdigkeit war verflogen. Ich kleidete mich an. Dann rannte ich über den Grand Pont, wo auch ein Feuer leuchtete und viele Menschen sangen und tanzten. Niemand achtete auf mich - glaubte ich wenigstens. So gelangte ich unbehelligt auf die Ile de la Cite. Ich wollte über den Platz vor Notre-Dame hasten, der still und leer dalag, da die Domherren im Angesicht der Kathedrale keine Feiern duldeten, als ich plötzlich stehen blieb.
Ein schwerer Donner rollte über Paris, so wuchtig, dass ich glaubte, die Mauern der Häuser zittern zu sehen.
Doch das war es nicht. Verwundert blickte ich mich um. Irgendetwas war anders als sonst. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Ich starrte auf die dunklen Häuserzeilen, hinter denen die Feuer aufleuchteten. Ich blickte zurück auf den Grand Pont. Wieder rollte ein Donner heran, noch erschütternder als der zuvor. Dann zuckte ein Blitz über den Himmel, als wäre das Gewölbe, das sich über die Weltenscheibe spannt, mit Riesenhand gespalten worden. Da entdeckte ich es: Notre-Dame!
Im rechten Turm, ganz oben, direkt unter der wuchtigen Spitze, die eher einem Burgturm zugehörig schien, denn einem Hause GOTTES, flackerte ein gelbliches Licht. Einen Augenblick glaubte ich, dass es vielleicht der Widerschein irgendeines der unzähligen Johannisfeuer sei, doch dafür war dieses Leuchten, wiewohl schwach, trotzdem zu hell und gleichmäßig. Dort oben leuchtete eine Kerze. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Wer mochte um diese Stunde oben im Turm sein? Noch dazu in der Johannisnacht? Warum sollte jemand dort oben sein? Und — ich erschauderte - war derjenige, wer immer es sein mochte, womöglich nicht nur in dieser Nacht auf dem Turm der Kathedrale? Vielleicht hatte er schon manche Nacht so zugebracht? Vielleicht auch die Nacht, da Heinrich von Lübeck ermordet wurde? Müsste man von dort oben denn nicht hinunterblicken können bis vor das Portal, wo die Untat verübt wurde? Ich schwankte, ob ich zur Kirche schleichen sollte. Da rollte wieder der Donner heran, gefolgt von einem Blitz, der ein feuriges Netz auf das Firmament zauberte, bevor er erlosch. Bevor er erlosch …