Выбрать главу

So war ich denn am Boden zerstört und schwebte doch zugleich im Himmel, war reuig und demütig wie nur irgendein Mönch sein kann — und erging mich doch im Augenblick danach in wollüstigen Schwärmereien wie ein verwöhnter Edelmann.

Ich blickte mich um und forschte verstohlen in den Gesichtern meiner Mitbrüder, die den Hymnus zur Prim anstimmten, ob ihnen wohl an mir Merkwürdiges, ja Alarmierendes auffallen möge. Doch niemand achtete meiner. Sorgfältig ließ ich meinen Blick noch einmal über die dunkel gewandeten Mönche wandern - plötzlich schauderte ich.

Philippe de Touloubre fehlte in den langen Reihen der betenden Dominikaner.

*

So hatte ich denn, wiewohl dies kaum ein Trost sein konnte, etwas, das mich von meinen Gedanken an Wollust und Sünde fortführte. Ich fragte mich, während ich sang und betete und dabei doch nur Worte formte, die meinem Herzen nichts bedeuteten, ob der Inquisitor schon zu so früher Stunde das Kloster verlassen hatte. Oder war er womöglich seit gestern gar nicht zurückgekehrt? Ich erschauderte und hatte einen Augenblick lang die Vision, dass Meister Philippe für meine Sünden büßen musste: Denn was wäre, wenn ihm gestern Abend oder in der vergangenen Nacht etwas zugestoßen war? Was wäre, wenn der Finstere ihn geholt hatte, nicht mich, weil er in der Nacht den Mönchshabit des Inquisitors mit dem meinen verwechselt hatte?

Vermisste schon jemand Philippe de Touloubre? Sollte ich mit dem Prior reden? Oder wäre es eher im Sinne des Inquisitors gewesen, wenn ich nicht mit Bruder Carbonnet sprechen würde, um ihn gar nicht erst auf das Fehlen von Meister Philippe hinzuweisen? »Oh HERR«, murmelte ich, »sende mir ein Zeichen. Was soll ich tun?«

Doch GOTT erhörte mein Flehen nicht. Die Prim ging zu Ende und nichts gab es, das ich als SEIN Zeichen hätte deuten können. So beschloss ich, dem Prior zwar nichts zu sagen, das Kloster jedoch zu verlassen, um in der Stadt nach Meister Philippe Ausschau zu halten. Es gelang mir ohne Schwierigkeit, vom Prior die Erlaubnis einzuholen, mit einem Bruder, dessen Name Malachias war, zum Einkaufen heilkräftiger Kräuter entsandt zu werden. Jener Malachias war aus Toulouse nach Paris geflohen. Wir hatten schnell herausgefunden, dass er sich besser noch als unser Apotheker auf das Mischen von allerlei heilenden Aufgüssen und lindernden Tees verstand. Doch da ein Geschwür seine Oberlippe aufgerissen hatte, sprach er sehr undeutlich; auch wollten viele Marktweiber gar nicht mit ihm reden, weil sie ihn für verflucht hielten. Deshalb entbot ich mich denn, Bruder Malachias zu begleiten.

Da seine Lippe ihn so sehr hinderte, sprach Bruder Malachias nicht mehr Worte, als unbedingt notwendig war. So verließen wir schweigend und noch zu früher Stunde das Kloster in der Rue Saint-Jacques. Nach dem Gewitter war die Luft kühl, klar und angenehm frisch. Das Straßenpflaster glänzte sauber, da der Unrat vom Wolkenbruch in die Seine gespült worden war. Nur die überall niedergebrannten Scheiterhaufen störten den Eindruck von Reinheit: Schwarz und stumpf war das Holz und es roch bitter nach nassem Rauch. Auf der Straße war es ruhiger, als ich es je zuvor erlebt hatte. Viele Bürger lagen nach den Tänzen, der Musik und wohl auch anderen Vergnügungen der Johannisnacht, noch in ihren Betten. Mönche und Priester gingen zahlreich hierhin und dorthin, Marktweiber strebten den großen Plätzen zu, auch ein paar Diener und dazu Bauern, die Hühner und Kirschen verkaufen wollten. Dann und wann taumelte, noch benommen vom Wein, ein Zecher aus einer dunklen Gasse, blinzelte in der Sonne und machte sich rasch auf den Heimweg. Doch all dies war nichts im Vergleich zum lärmenden Durcheinander normaler Pariser Tage - und erst recht nichts im Vergleich zum Gedränge, das in den letzten Wochen geherrscht hatte.

Plötzlich machte ich noch eine Feststellung, die mich mindestens genauso beunruhigte: Es gab an jenem Tag keine neuen Flüchtlinge mehr, die zuvor doch stetig durch eines der vielen Stadttore hineingeströmt waren. Es war, als wäre eine menschliche Flut von einem Tag zum anderen versiegt.

Manchmal blickte ich mich unauffällig um — stets hoffend, dass irgendwann doch die ersten Bauern, die ersten Bürger anderer Städte beladen mit Habseligkeiten hinter Karren und Wagen durch die Straßen wanken würden. Doch niemand kam. Paris lag still da und, so unglaublich dies klingen mag, beinahe leer. Es war, als gäbe es im Land um die Stadt keine Menschen mehr.

Bruder Malachias und ich schritten die Rue Saint-Jacques hinab Richtung Seine, bogen allerdings schon vor der Kirche Saint-Severin nach rechts ab. Es war nicht sehr weit von dort bis zur Place Maubert, einem Platz, geformt wie eine riesige Pfeilspitze, deren scharfes Ende stadtauswärts wies. Sein einziger Zierrat war die Croix Hemon, ein großes, steinernes Kreuz. Mich schauderte, denn es sah aus, als hätte Jesus leibhaftig dort hängen können, so düster und groß war es. Überhaupt war die Place Maubert übel beleumundet, lag hier, an der kleinen, auf den Platz führenden Rue Coupe-Geule, doch das Kollegium, das der königliche Kaplan Robert de Sorbon vor über einem Jahrhundert für mittellose Studenten der Theologie gestiftet hatte. Berühmt war es und gerne hätte ich dort meine Studien betrieben. Doch inzwischen war ich lange genug in Paris, um zu ahnen, dass ich so bald nicht dort arbeiten würde. Inzwischen wusste ich auch, dass zumindest die weltlichen Studenten bei den Bürgern wenig angesehen waren. Sie galten als dem Weine übermäßig zugetan, als anmaßend und rauflustig.

Da an der Universität, deren Kollegien fast alle an der Place Maubert lagen, auch Medizin gelehrt wurde, war der dortige Markt auf dem Platz auch dann noch eine Quelle für Heilkräuter, wenn es andernorts keine mehr gab. Bruder Malachias war einige Male hierher gekommen — bis eine abergläubische Bauersfrau, die Pflanzen aus dem Wald angeboten hatte, ihn mit Steinen und Unrat beworfen hatte, um ihn zu vertreiben; zu sehr hatte sie sein Gesicht gefürchtet. Nun hatte sich Bruder Malachias die Kapuze so eng um den Kopf geschlungen, dass sie Lippen und Kinn verbarg. Er ging einige Schritte hinter mir und gab mir nur halblaut Anweisungen, bei welchem Stand ich stehen zu bleiben hatte. Dann deutete er auf ein bestimmtes Kraut, einen getrockneten Pilz oder ein paar Blüten, bezahlte widerspruchslos jeden geforderten Preis und schritt weiter, seine neueste Errungenschaft bereits in einem großen Lederbeutel verstauend, den er am Gurt um seine Kutte trug.

So gingen wir wohl eine Stunde über den Markt. Ich bemühte mich, unauffällig nach Meister Philippe Ausschau zu halten, doch konnte ich ihn nirgendwo erblicken. Warum auch, denn was hätte er ausgerechnet hier suchen mögen?

Als ich schon verzweifeln wollte, denn mein Mitbruder hatte alle Heilkräuter gefunden, bedeutete mich Malachias zu sich.

»Der Prior hat mir aufgetragen, das Blindenhospiz zu besuchen«, lispelte er und sprach dabei so undeutlich, dass ich nachfragen musste. »Wir sollen tatsächlich zu den Blinden gehen, ins Quinze-vingt?« Malachias nickte nur. König Ludwig der Heilige hatte es einst gegründet als Hospiz für fünfzehn mal zwanzig Blinde, daher sein Name. Es lag am anderen Ufer der Seine, vor der Porte Saint-Honore. »Wir sollen den Blinden einige Kräuter bringen«, erklärte mir Malachias. »Der ehrwürdige Vater will es so, auf dass das Volk in uns Dominikanern mildtätige Brüder sehe, nicht nur herzlose Inquisitoren.« Er hielt erschrocken inne und senkte dann den Blick. »Verzeiht mir, Bruder Ranulf«, murmelte er.

»Ihr sprecht recht: Jedermann furchtet die Inquisition. Das muss auch so sein. Doch auch dies ist recht, dass wir Dominikaner der Herde GOTTES mehr sein müssen als Hirtenhunde. Wir müssen auch die Qualen der Körper lindern«, sprach ich und war stolz auf meine weisen Worte.

Im Geheimen zürnte ich Bruder Malachias zwar wegen seiner Äußerung über die Inquisitoren, doch ließ ich mir nichts anmerken, denn der Weg zum Blindenhospiz würde uns quer durch die Stadt führen und mir Gelegenheit bieten, nach Meister Philippe Ausschau zu halten - und nach einer stolzen, blonden Frau, die gerne allein durch die Gassen von Paris schritt.