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Doch erblickte ich in den nächsten beiden Stunden weder den Inquisitor noch sah ich Klara Helmstede. Ich war enttäuscht und hoffte, dass Bruder Malachias mir dies nicht ansah.

Was die Gattin des Reeders wohl gerade tat? Wie verzehrte ich mich schon nach ihr, kaum dass ich ein paar Stunden ohne ihre Gegenwart ertragen musste! Nur dass die Kogge noch immer an ihrem Platz lag, das erleichterte mich ein wenig.

Die Blinden wurden von Zisterzienserinnen gepflegt, deren Abtei Saint-Antoine-des-Champs dem Hospiz gegenüber lag. Quinze-vingt und das Kloster lagen im Schatten vor der Stadtmauer, nur die Rue Saint-Honore trennte sie voneinander, eine breite Straße, die nach Osten lief - und auf der niemand zu sehen war. Bruder Malachias und ich blickten uns an, als wir durch das Stadttor auf die menschenleere Straße hinausschritten, wir sprachen jedoch kein Wort.

Dann überbrachten wir den Schwestern die Kräuter. Sie boten uns Wasser und Brot zur Stärkung an, doch da mein Begleiter freundlich, aber bestimmt ablehnte, verneinte auch ich — obwohl mein Mund trocken war und mein Bauch grollte.

Auf dem Rückweg, wir waren schon fast am Grand Pont, kamen wir an einem Lager der Zigeuner vorbei. Jedermann weiß, dass es sich dabei um Christen aus Unterägypten handelt, die von den Sarazenen einst niedergeworfen und zum muslimischen Glauben bekehrt worden waren. Später zwar kehrten sie zum wahren Glauben zurück, doch müssen sie seither zur Buße durchs Land ziehen, ohne je in einem festen Haus schlafen zu dürfen.

Ihre Männer trugen silberne Ringe im Ohrläppchen und hatten sich mit Zauberkünsten schwarze Farbe auf die Haut im Gesicht und an den Armen gemalt, die man niemals wieder abwischen konnte. So sahen sie gar fürchterlich aus, doch grüßten sie uns freundlich, als wir vorübergingen. Eine alte Frau, mir dünkte sie wie eine Hexe, griff nach meiner Hand. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich begriff, dass sie mir mit schwarzer Magie meine Zukunft aus der Hand lesen wollte.

Erschrocken zog ich meine Rechte zurück, denn zu meinen vielen Sünden wollte ich diese nun nicht auch noch hinzufügen. Da ich die Alte jedoch nicht beleidigen wollte, hob ich die Hand, die ich ihr soeben entzogen hatte, zum Segen und murmelte »Pax vobiscum.« Die Alte war höchlich erfreut und verneigte sich, wobei sie mir in einer Sprache antwortete, deren Worte ich nicht verstand. Rasch ging ich weiter. Bruder Malachias war eiliger ausgeschritten, als er der Zigeuner ansichtig geworden war, und war schon etliche Schritte voraus. Ich eilte hinter ihm drein über die Brücke und war fast auf dem Platz von Notre-Dame, wiewohl aber immer noch ein gutes Stück hinter meinem Mitbruder, als ich eine Hand an meiner Kutte spürte.

Ein Schauder durchfuhr mich, denn ich glaubte, der Unbekannte der letzten Nacht sei nun gekommen, um mich zu holen.

Doch als ich mich umwandte, erblickte ich nur eine gebeugte Frau unter einem alten Umhang. Ich dachte, dass eine Zigeunerin mir gefolgt war, und wollte sie schon mit einer Geste fortscheuchen - eher erleichtert darüber, dass mich nicht der Finstere angehalten hatte, denn wütend über diese Aufdringlichkeit -, da richtete sich die Frau auf und sah mir geradeheraus ins Gesicht. Es war Lea.

Ich blickte in ihr schmales Gesicht, ihre dunklen Augen, sah, wie sie ihr blauschwarzes Haar unter dem schäbigen Tuch mühsam zurückgebunden hatte. Ihre Kleidung war zerschlissen und von undefinierbarer Farbe. Nirgendwo konnte ich den gelben Judenflicken sehen, den sie doch allezeit tragen musste. Ich hätte sie verhaften lassen müssen, doch dachte ich in jenem Augenblick nicht einmal daran. Noch bevor ich einen erstaunten Ruf ausstoßen konnte, hob Lea schnell die Rechte an die Lippen und bedeutete mir mit dieser Geste zu schweigen.

Rasch sah ich mich um: Bruder Malachias schritt weiter, als hätte er mich vergessen. Ich wusste, dass ihn alles zum Kloster zog, wo er die Kräuter, die er gekauft hatte, zu seiner Medizin verrühren konnte. Ihn drängte der Wille zu helfen, mich hielten Neugier und Sünde zurück.

Die junge Jüdin hielt mich nicht länger auf, als man braucht, um eine Zeile des PATER noster zu beten. Auch sie blickte sich rasch um, dann holte sie unter ihrem Gewand ein Paket hervor, das in ein altes, dunkelbraunes Tuch eingeschlagen war. Es war so lang wie mein Unterarm, so breit wie ein Laib Brot und so schwer wie ein Ziegel. »Nehmt das, Bruder Ranulf, dann werdet Ihr vielleicht so manches verstehen!«, flüsterte Lea atemlos. »Versteckt es gut, niemand darf Euch damit sehen. Nun eilt Euch!«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief rasch die nächste Gasse hinunter, wo sie nach wenigen Augenblicken hinter einer Hauswand verschwand.

Ich unterdrückte meinen Wunsch, nach ihr zu rufen, ja, ihr hinterherzueilen. Eben noch dachte ich an Klara Helmstede und die letzte Nacht, nun galten alle meine Gedanken Lea und ihren Worten.

Ich schob das Paket in die weite Öffnung meines rechten Ärmels. Ich hätte es nirgendwo anders verstecken können, denn in meinen am Gurt hängenden Beutel passte es nicht. Damit es nicht herausfiel, verschränkte ich beide Unterarme ineinander. Mit meiner Linken umklammerte ich sodann das Paket, das an meinem rechten Unterarm lag. Es brannte wie Feuer in meiner Hand, während ich Bruder Malachias hinterhereilte.

Nie war mir der Weg durch Paris länger vorgekommen als zu jener Mittagsstunde, nie trug ich etwas, das schwerer wog als dieses Paket, nie waren meine Hände ungeschickter als in diesem Moment, da ich versuchte, die Gabe Leas in meiner Kutte verborgen zu halten. Wie atmete ich auf, als wir endlich das Kloster erreicht und unsere Kräuter in der Apotheke abgegeben hatten. Bruder Malachias verbeugte sich vor mir, dann eilte er zur Krankenstube, um sich der Pflege der daniederliegenden Mönche zu widmen. Ich murmelte einen Segenswunsch, doch wagte ich nicht, meine Hände aus den Ärmeln zu ziehen und ihm den Segen auch mit der Rechten zu erteilen. Ich hoffte, dass er dies nicht bemerken würde.

Ich bezwang mich und ging gemessenen Schrittes den Kreuzgang entlang, obwohl ich doch am liebsten gerannt wäre wie ein Knabe, der einen Streich begangen hat und nun nach Hause eilt. Kurz blickte ich mich um, ob ich irgendwo Meister Philippe sehen mochte. Diesmal war ich erleichtert, dass dem nicht so war, denn ich wagte gar nicht, mir auszumalen, wie es wäre, wenn ich mit dem versteckten Paket dem Inquisitor unter die Augen getreten wäre. Hätte dieser es nicht sofort entdeckt? Wie hätte ich die Situation dann erklären können, ohne nicht zugleich einen Verdacht auf Lea zu lenken? Den ganzen Rückweg hatte ich mich schon gefragt, warum Lea mir dieses Paket überreicht haben mochte — und was es wohl enthielt. Sie hatte ihren Judenflecken verborgen. Ich glaubte nicht, dass ihr Vater davon wusste. Vielleicht, so sagte ich mir, hatte sie mich und Bruder Malachias erblickt, als wir zum Blindenhospiz gegangen waren, denn auf dem Weg dorthin mussten wir ja an der Kathedrale Notre-Dame und mithin in der Nähe des Judenviertels vorbeiwandern. Dann hatte sie sich einen unauffälligen Mantel übergeworfen und mich erwartet, da sie ja nun hoffen konnte, mich früher oder später auf dem Rückweg wieder abzufangen.

Was mochte sie mir gegeben haben? Mit meiner Linken hatte ich unterwegs das Paket abgetastet, während ich es umklammert hielt - und ich glaubte schon zu wissen, was es enthielt: ein schweres Buch. Sollte es eine jüdische Schrift sein? Ein ketzerisches Werk? Was geschähe mir, fände man es hier, im Kloster der Dominikaner? Und was erst würde man mit Lea und ihrem Vater machen? Endlich war ich in meiner Zelle angelangt, blickte mich auf dem Gang noch einmal um, schlüpfte dann hinein und schloss sorgfältig die Tür. Ich setzte mich auf die Pritsche und schlug mit zitternden Fingern den Stoff um das Paket auf. Wie vermutet, fand ich ein Buch und einen Brief.

Ich versuchte, meine Ungeduld zu beherrschen, und öffnete zuerst den Brief. Es war ein halbes Blatt Pergament, das aussah, als wäre es irgendwo anders herausgetrennt worden, vielleicht aus einem Buch. Ganz schwach konnte ich noch eine kleine, schwarze Schrift erkennen, die mit einem feinen Messer sorgfältig herausgeschabt worden war und nur noch wie ein geisterhafter Schatten auf dem Pergament zu schweben schien. Quer zum gelöschten alten Text hatte jemand einen neuen geschrieben. Die Handschrift war groß, schwungvoll und klar. Ich musste nicht rätseln, wer die Buchstaben so geschickt zu setzen verstand.