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Diesen Brief habe ich über all die Jahre aufbewahrt. Auch auf meinen vielen Reisen habe ich mich niemals von ihm getrennt, denn er ist mir lieb und teuer. Und so liegt er nun, Jahrzehnte später, vor mir, gelb ist das Pergament geworden und brüchig und fast schon geisterhaft ist auch die schwungvolle Schrift, so wie die ursprüngliche endgültig verblasst ist. Ich streiche die schwärzlich verfärbten Knickstellen glatt und schiebe den Brief näher zur Kerze. So kann ich ihn abschreiben, Wort für Wort, und ihn in meinen Bericht einfügen:

Bruder Ranulf,

JHWH möge mit Euch sein auf all Euren Wegen und Euch beistehen bei all Euren Taten, auf dass ER Euch einst zählen wird zu den Gerechten. Ich schreibe Euch wieder, diesmal ausführlicher, denn ich weiß mir keinen anderen Rat, als Euch — und nur Euch, ich flehe Euch an, darüber kein Wort gegenüber dem Inquisitor zu verlieren! — die Dinge so darzulegen, wie sie mir zu sein scheinen. Urteilt dann selbst.                     

Mein Vater hat Euch nicht die Wahrheit gesagt, als er Euch versicherte, dass der Mönch aus Lübeck, JHWH möge sich seiner erbarmen, wegen Gelddingen bei ihm vorgesprochen habe. Nechenja ben Isaak ist ein gerechter Mann, doch ihn plagte die Furcht vor der Inquisition - besonders vor Fragen, die Ihr an ihn stellen könntet, die er aber nicht zu beantworten vermag. Ich werde Euch nun berichten, wie es sich tatsächlich zugetragen hat, denn ich will meinen Vater nicht der Gefahr aussetzen, zu Les Halles geführt zu werden und dort am Galgen zu baumeln oder gar, wie es vor einigen Monaten mit gefangenen Landsknechten hier geschehen ist, gefesselt in die Seine gestoßen zu werden, um dort zu ertrinken wie eine schwarze Katze, die angeblich Unglück bringt.

Mein Vater sammelt seit vielen Jahren schon geografische Werke. Schon immer, fragt mich nicht nach den Gründen dafür, ich kenne sie nicht, strebte er danach, Landkarten, Atlanten, Reiseberichte und dergleichen zu erwerben, seien sie nun Werke der Alten oder Früchte heutiger Gelehrsamkeit. Seine Sammlung hat meinem Vater einen gewissen Ruhm eingetragen, zumindest im Kreise der Männer, die solcherart Gelehrsamkeit zu schätzen wissen — Christen wie Juden. An jenem Abend nun suchte uns Heinrich von Lübeck auf und begehrte, die Bibliothek meines Vaters zu sehen. Mein Vater war überrascht - und auch, verzeiht, Bruder Ranulf, erschrocken, denn jeder Dominikaner ist in seinen Augen zugleich auch ein Inquisitor -, als der Mönch an unsere Pforte klopfte. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, wohl aber von ihm gehört.

Sein Sohn, mein Bruder, ist ja, wie Ihr wisst, Rabbiner in Lübeck und erwähnte gelegentlich auch Heinrich von Lübeck, da dieser in seiner Heimat ein geachteter Mann ist und ein verehrter Prediger. Selbst die Juden zu Lübeck schätzten seine Gelehrsamkeit und die Großmut, die er uns gegenüber stets gezeigt hat.

Also ließ mein Vater ihn ein. Heinrich von Lübeck stellte sich uns kurz vor, machte ansonsten jedoch nicht viele Worte, er schien mir in Eile zu sein. Er sagte, dass er ein bestimmtes Werk über Geografie lesen wolle und fragte, ob es im Besitz meines Vaters sei. Als Grund führte Heinrich von Lübeck an, er wolle etwas für seinen Freund Richard Helmstede nachsehen, den Reeder und Kapitän aus Lübeck, den Ihr, Bruder Ranulf, inzwischen sicherlich gut kennt. Verzeiht mir die ungeheuerlich klingende Unterstellung: Ich glaube, dass der Mönch in diesem Punkte nicht die Wahrheit sprach, auch wenn ich ihn nicht einer Lüge habe überführen können. Ich denke jedoch, dass er eher für sich selbst denn für Herrn Helmstede dieses Werk zu sehen wünschte.

Wie dem auch sei: Mein Vater jedenfalls besaß dieses Werk und zeigte es dem Mönch. Heinrich von Lübeck war erregt, ja fast außer sich, wie es einem Mönch wohl kaum geziemt. Er wollte das Buch, kaum, dass er es aufgeschlagen und eine Seite gelesen hatte, gleich wieder zuklappen und mitnehmen. Er bot meinem Vater viel Geld dafür, doch mein Vater gibt niemals ein Buch her, das er einmal erworben hat. Er verehrt Folianten und Pergament kaum weniger als die Thora. Er blieb auch standhaft, als Heinrich von Lübeck abwechselnd flehte und drohte.

Schließlich einigten sie sich darauf, dass Heinrich von Lübeck wiederkehren sollte. Mein Vater erlaubte ihm, das Buch in seiner Bibliothek - und unter seinen wachsamen Augen, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt wurde - zu kopieren. Heinrich von Lübeck dankte ihm, er segnete uns, dann verabschiedete er sich. Das war ein paar Stunden, bevor seine Seele zu JHWH einging. Mein Vater hat nie mit mir über diesen Besuch gesprochen, meine Fragen ignorierte er. Mit keinem Wort erwähnte er das Buch oder was daran so Besonderes wäre, dass es jener Mönch unbedingt in seinen Besitz bringen wollte. Ich glaube, mein Vater weiß selbst nicht, was Heinrich von Lübeck an diesem Werk so in Erregung versetzte, vielleicht sogar in Furcht.

Ich vermag es auch nicht zu sagen. Doch mich ängstigt dieses Buch nun. Allein deshalb habe ich es heute, da ich Euch auf dem Platz vor Notre-Dame erblickte, heimlich an mich genommen, um es Euch zu übergeben.

Mein Vater darf davon nichts wissen. Ich bitte Euch: Seht es an, studiert es, sucht es nach ketzerischen Stellen ab. Ihr seid ein Mann der Gelehrsamkeit und Ihr seid Dominikaner. Wer außer Euch könnte herausfinden, warum Heinrich von Lübeck gerade jenes Werk lesen, kopieren und am liebsten besitzen wollte?

Vielleicht gibt Euch dieses Werk gar eine Spur, die zu dem Mann führt, der Euren Mitbruder erdolchte.

Auch Meister Philippe würde wohl eine Verbindung zwischen dem Werk und Eurem Mitbruder herzustellen wissen, doch unweigerlich würde er, der oberste Inquisitor von Paris, meinen Vater in den Kerker werfen lassen. Ihr wisst selbst am besten, dass ein Jude, der einmal im Kerker der Inquisition sitzt, aus diesem niemals wieder freikommt. Zumal in diesen Tagen, da Menschen nach Paris strömen und von einer schrecklichen Seuche berichten - und uns Juden schon böse Blicke zuwerfen. Ich weiß sehr wohl, dass viele Bürger flüstern, wir würden die Brunnen der Christen vergiften. Euch aber vertraue ich. So gebt mir, ich flehe Euch an, Nachricht, wenn Ihr etwas findet, das Licht in diese dunkle Sache bringen könnte. Ich weiß, dass ich Schwieriges von Euch erbitte, ja, dass ich Euch geradezu anflehe, ungehorsam zu sein gegenüber Eurem Orden. Doch Ihr seid ein Mann nach dem Sinn von JHWH. Ich spüre, dass Ihr in ehrlicher Empörung den Mörder Eures Mitbruders verfolgt und ihn seiner gerechten Strafe zuführen, jedoch keine Unschuldigen im Kerker schmachten lassen wollt.

So lege ich denn das Schicksal meines Vaters — und mein eigenes — in Eure Hände. Entdeckt in jenem Buch den einen Faden, der alles zu entwirren vermag, und entdeckt ihn rasch, denn die Zeit drängt! JHWH behüte Euch. Ich harre Eurer Antwort.

Lea bas Nechenja, Tochter des Nechenja ben Isaak

Ich starrte auf den Brief und las ihn dann ein zweites Mal. Lea bat mich darin, in der Tat, um Ungeheures.

Würde ich ihren Wünschen nachkommen, ich liefe Gefahr, selbst zum Häretiker zu werden. Doch zweifelte ich nicht einen Augenblick daran, dass es für mich keinen anderen Weg gab, als ihrem Flehen nachzukommen.

Also nahm ich vorsichtig das Buch in die Hand. Es war ein gewichtiger, wohl fast dreihundert Seiten mächtiger Foliant, gebunden jedoch in unscheinbares, vom Alter dunkel gewordenes Leder. Sein Einband war intakt, ja fast wie neu - als habe nur sehr selten jemand darin geblättert.