Ich schlug das Buch auf — und musste mich bezwingen, nicht erstaunt auszurufen.
Was eigentlich hatte ich erwartet? Ich vermag es bis heute selbst nicht genau zu sagen. Ein uraltes Werk der Katharer oder anderer Ketzer? Eine der rätselhaften Schriften der Kabbalisten? Eine andere jüdische Schrift? Ein Werk der Griechen oder Römer, jedenfalls aus heidnischer Zeit? Nun, es war nichts davon — sondern ein christliches, geachtetes, wahrhaft frommes Buch.
»Der ›Liber floribus‹ des Lambert von Saint-Omer«, murmelte ich. Ich hatte von dem Werk und seinem Autor gehört, wiewohl ich es nie zuvor in Händen gehalten hatte. Lambert war ein französischer Kanonikus gewesen, Chorherr im Kapitel der Kathedrale zu Saint-Omer. Er war, wenn ich mich recht entsann, schon seit über zweihundert Jahren tot.
Der »Liberfloribus« war eine nützliche Sammlung weltlichen Wissens, die Lambert, der ein sehr neugieriger Mann gewesen sein muss, am Ende seines Lebens zusammengetragen hatte. Ein Buch, in dem er aus der Heiligen Schrift, den Werken der Kirchenväter und den Schriften der Alten zitiert hatte. Darin, so hatte ich gehört, fanden sich Beschreibungen der Gestirne und Anleitungen zum richtigen Rechnen, Darstellungen von bekannten und fremden Tieren und Pflanzen und allerlei anderen nützlichen Wesen und Dingen. Nie jedoch hatte ich davon gehört, dass der »Liber floribus« im Ruch der Ketzerei stünde oder gar offiziell von der Inquisition verdammt worden wäre. Ja, noch nie war er irgendeinem meiner Lehrer so wichtig erschienen, dass er mich angehalten hätte, ihn auch nur flüchtig zu studieren.
Was also mochte es sein, dass Heinrich von Lübeck schon nach einer kurzen Lektüre derart in Erregung versetzt hatte? Ich schlug die ersten Seiten auf - und staunte nicht schlecht. Denn zum Text gesellten sich Dutzende, Hunderte farbige Bilder von wahrhaft seltsamen und doch feinen Wesen. Ich erblickte eine kompliziert verflochtene Spirale, in deren Mitte ein Fabelwesen lauerte, halb Stier, halb Mensch. »Minotaurus in laberintho«, las ich. Ich sah Blüten — und erkannte wohl manche wieder, die Bruder Malachias und ich erst vor wenigen Stunden auf dem Markt gekauft hatten. Hier erfuhr ich ihre Namen und lernte, welche Leiden sie linderten.
Lambert hatte auch Tiere beschrieben, wie man ihrer wohl kaum je im Abendland ansichtig würde: Ich staunte über ein Rhinozeros und ich lernte, wie ein Einhorn aussah, eine Hyäne, ein Cameleopardis und ein Krokodil.
Die apokalyptischen Monster sah ich, von welchen der Prophet Hiob so schauerlich gesprochen hatte: Behemoth schritt über das Pergament, geritten vom Teufel, und Leviathan, geritten vom Antichristen. Schaudernd blätterte ich um, so lebensecht dünkten mich die Bilder, dass ich Angst hatte, die Bestien könnten lebendig werden und dem Buch entspringen.
Doch nichts davon ergab für meine Suche einen Sinn. Was hatte Heinrich von Lübeck oder — falls Lea sich doch täuschte und das mochte ich durchaus nicht ausschließen - was hatte Richard Helmstede mit apokalyptischen Monstern, seltsamen Tieren und heilkräftigen Pflanzen zu schaffen? Je mehr Seiten ich umschlug, desto ratloser, ja verzweifelter wurde ich. Eine Darstellung der Sonne. Eine Anweisung zur Addition. Eine Beschreibung von Bergen. Welchen Nutzen mochte sich mein toter Mitbruder davon versprochen haben? Die Glocke läutete schon zur Vesper und ich hätte den »Liber floribus« schon beinahe zugeklappt, um ihn unter meiner Pritsche zu verstecken, da blätterte ich noch einmal um. Vor mir lag eine Karte der Welt.
»Mappamundi«,
murmelte ich und sah Küsten und Meere, vom einen Rand der Welt zum anderen.
Oh, wie gerne hätte ich sie in jenem Moment studiert, hätte mich eingeschlossen und die Welt vergessen! Doch ich durfte das Risiko nicht eingehen, im Kloster anwesend zu sein, jedoch nicht zur Vesper zu erscheinen. Unweigerlich hätte ein Bruder nach mir gesehen und gefragt, ob ich mich auch wohl fühle.
Also riss ich mich vom »Liber floribus« los, wickelte ihn in Leas Tuch und schob ihn tief unter meine Schlafstatt. Ihren Brief jedoch faltete ich zusammen und verbarg ihn unter meiner Kutte. Dann eilte ich zur Kirche, ein demütiger Schatten unter vielen.
*
Wie froh und doch zugleich erschrocken war ich, da ich in der Kirche endlich wieder Meister Philippe erblicken durfte! Der Inquisitor sah müde und erschöpft aus, stand nahe beim Prior und nickte mir nur zu, als er meiner ansichtig wurde. Wir waren zu weit voneinander entfernt, um sprechen zu können.
Ich freute mich, dass ihm nichts zugestoßen war, wo immer er in den letzten Stunden gewesen sein mochte. Zugleich fürchtete ich mich jedoch davor, dass er mir irgendwie auf die Spur kommen könnte. Sollte ich dem Inquisitor alles sagen? Sollte ich verraten, dass Richard Helmstede sich Seekarten zeichnen ließ von Juden aus Spanien? Ketzerische Karten? Und sollte ich ihm vom »Liberfloribus« im Besitz des Nechenja ben Isaak erzählen, in dem ich soeben — mochte das noch Zufall sein? - auch eine Weltkarte entdeckt hatte? Vielleicht hatte Lea ja recht und Meister Philippe erkannte mit einem Blick die Spur, die zur Aufklärung all unserer Rätsel führen würde? Doch würde er nicht auch sofort die Spur entdecken, die von mir zu Klara Helmstede führte? Denn natürlich würde er mich fragen, wie ich von den Seekarten des Reeders erfahren hatte - und könnte ich Meister Philippe anlügen?
Außerdem hatte mich Lea ausdrücklich angefleht, sie zu schützen! Selbstverständlich wusste ich, dass die Bitte einer Jüdin ein Nichts ist im Angesicht der Pflichten eines Inquisitors. Und doch: Ich wollte sie nicht verraten.
Also schwieg ich. Ich nickte Meister Philippe einen kurzen Gruß zu, dann senkte ich demütig den Blick und vermied es, während der Vesper noch ein weieres Mal zu ihm hinüberzusehen. Dann zählte ich die Worte der Hymnen und Gebete und maß mir so die verstreichende Zeit ab. In mir brannte eine sengende Sehnsucht nach meiner Zelle, wo ich dieses Buch wieder hervorzerren und in Ruhe lesen wollte! Diese Leidenschaft war kaum weniger stark als jene Wollust, die mich noch wenige Stunden zuvor entflammt hatte. So brannte ich und nahm schon in diesem Leben die ewigen Qualen vorweg, die mich dermaleinst wegen all meiner Sünden noch erwarten werden für alle Ewigkeit.
Doch so sehr mich die Leidenschaft plagte, so bewahrte ich mir doch noch einen Rest Klugheit, zumindest Vorsicht: Am Ende der Vesper war ich nicht der erste Mönch, der aufstand und dem Ausgang zustrebte. Ich betete noch ein PATER noster, dann erst, als einer der Letzten, schlich ich demütig zur Pforte der Kirche. Dort traf ich auf Meister Philippe, der in ein leises Gespräch mit dem Ehrwürdigen Prior vertieft war. Für einen Moment setzte mein Herz aus, doch der Inquisitor nickte mir nur zu, segnete mich mit müder Geste und wandte sich dann wieder Bruder Carbonnet zu. So gelangte ich denn endlich unbehelligt wieder in meine Zelle. Dort schloss ich die Tür und holte mit zitternden Händen den rätselhaften Schatz, den mir die junge Jüdin überbracht hatte, aus seinem Versteck.
Die Weltkarte war schön gemalt: die Berge rote Dreiecke, die Flüsse mäanderten gleich grünen Schlangen durch die Länder. Ein Rahmen aus Tierkreiszeichen zierte die Darstellung. Doch mich konnten der feine Strich und die leuchtenden Farben, der kriegerische Schütze, der brüllende Löwe, nicht einmal die schöne Jungfrau auch nur für einen Moment ablenken.
»HERR, hilf mir«, murmelte ich und schlug das Kreuz. Lambert von Saint-Omer, das war selbst für einen der geografischen Künste Unkundigen wie mich unschwer zu erkennen, glaubte offensichtlich, dass unsere Welt keine Scheibe sei. Sondern eine Kugel. Selbstverständlich war das Pergament flach und also glich auch diese Mappamundi einer Scheibe. Doch ich sah, dass sie eigentlich einen perfekten Ball darstellen sollte.