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»Aber das ist Ketzerei«, keuchte ich. War dies nie jemandem aufgefallen? Hatte nie ein gelehrter Bruder Anstoß genommen? Wenn die Erde nämlich tatsächlich eine riesige Kugel wäre, müssten dann nicht Menschen und Tiere auf der unteren Seite hinabstürzen ins Firmament? Und wäre dann noch Jerusalem der Mittelpunkt der Welt, wo doch die Oberfläche einer Kugel gar keinen Mittelpunkt haben konnte? Hätte GOTT SEINE Welt so schaffen wollen? Ich mochte es nicht glauben.

Der Text, der diese Karte erläuterte, fand sich auf den folgenden Seiten. Lambert von Saint-Omer ließ keinen Zweifel daran, dass er, so wie schon Aristoteles - das zumindest behauptete der Verfasser —, die Erde für eine riesige Kugel hielt. Er entschuldigte sich nicht einmal für diese Häresie, frech klang dieser Chorherr, wie nur je ein Ketzer frech seine Irrlehren verkündet haben mochte.

Ich wollte das Buch zuklappen und angeekelt zu Boden werfen. Ja, ich spielte kurz mit dem Gedanken, es in das Tuch zu wickeln, unauffällig in die Küche zu schaffen und im Herdfeuer zu verbrennen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass Meister Philippe mich gelehrt hatte, dass man auf das Werk der Sünde blicken, ja es studieren musste, wenn man die Sünde ausmerzen wollte. Hatte er sich nicht auch die grausigen Verletzungen Heinrichs von Lübeck angesehen? Hatte er davor zurückgescheut, mit einer Schönfrau zu reden? Durfte ich da diese ketzerische Karte in die Flammen werfen? Nein, ich musste sie betrachten. Ich musste mir jede Einzelheit einprägen - denn irgendwo in jener ketzerischen Mappamundi mochte der Schlüssel verborgen liegen zu den abscheulichen Verbrechen, die unseren Orden plagten.

Also schlug ich den »Liber floribus« wieder auf und zwang mich, die Karte zu studieren, als sei es die Heilige Schrift. Ganz rechts hatte Lambert von Saint-Omer den Südkontinent eingezeichnet - größer, als ich ihn je in einer Karte gesehen hatte.

»Gemäßigt ist er im Klima«, schrieb er dazu, »doch unbekannt den Söhnen Adams. Nichts hat er mit der menschlichen Rasse gemein. Das Äquatormeer, das hier die Welt zerteilt, ist nicht dem menschlichen Auge sichtbar. Die volle Kraft der Sonne heizt diesen Ozean auf und erlaubt keine Reise zu oder von der südlichen Zone. Dort aber, so glauben manche Philosophen, lebt die Rasse der Antipoden, ganz verschieden von den Menschen wegen der Unterschiede der Regionen und des Klimas. Denn wenn wir geplagt werden von Hitze, leiden sie unter der Kälte. Und die nördlichen Sterne, die wir unterscheiden können, sind ihnen gänzlich verborgen. Tag und Nacht haben sie von gleicher Länge. Doch die Eiligkeit der Sonne am Ende der Wintersonnenwende führt dazu, dass sie jedes Jahr zwei Winter erdulden müssen.«

Woher mochte Lambert von Saint-Omer diese Dinge wissen, die mir zudem reichlich verworren zu sein dünkten — wenn doch, wie er selbst schrieb, noch nie ein Mensch jenen legendären Äquatorozean gen Süden überquert hatte? Satan mochte ihm dies eingeflüstert haben, denn wer sonst hätte sich durch diese Hitze wagen können? In der Mitte der Karte waren mir die Länder hingegen vertraut. Ich erkannte Europa, Asien und Afrika, dazwischen das Mittelmeer. »Gallia, Comata, Troja«, las ich die Namen von Ländern und Städten. Bei Afrika hatte Lambert von Saint-Omer eine Insel namens Tritonia eingezeichnet, bei Spanien die Balearics. Nördlich der Säulen des Herkules lag die Insel Betanica, wie der Verfasser England getauft hatte. Und wiederum nördlich von England lagen die dreiunddreißig kleinen Inseln mit Namen Orcades und noch weiter Gotha, das Land ewiger Kälte.

Links, weit im Westen also, genau gegenüber von Europa und Afrika, lag inmitten eines Ozeans das Paradies — zumindest glaubte dies Lambert von Saint-Omer. Wenn auch die meisten Männer von Gelehrsamkeit den Garten Eden irgendwo in Asien vermuteten, für immer unzugänglich für die Nachfahren Adams und Evas. Ich wollte schon den »Liber floribus« zuklappen, um ungestört darüber nachzudenken, was diese Weltkarte mit dem Tod Heinrichs von Lübeck zu tun haben mochte - denn wiewohl sie ein ketzerisches Werk war, so fand ich doch nichts, das mir die Untat verständlicher gemacht hätte -, da zögerte ich.

Ganz links hatte Lambert von Saint-Omer noch ein Land eingezeichnet, unterhalb des Paradieses. Die Schrift dort war verwischt, als hätte jemand erst vor kurzem mit dem Finger darübergestrichen. Ich beugte mich näher zum Pergament, hielt das Buch schließlich hoch, sodass das Sonnenlicht aus dem kleinen Fenster meiner Zelle genau auf die Seite fiel. Dann konnte ich den Namen jenes geheimnisvollen Landes lesen: terra perioeci.

11

HEILIGE UND SÜNDIGE OFFENBARUNGEN 

Wie viele Stunden mag ich auf diese beiden Worte gestarrt haben?

Terra perioeci. Das Land der Periöken. Irgendwo unterhalb des Paradieses. Der Name dieses Landes war es, den der sterbende Heinrich von Lübeck mit seinem eigenen Blut auf das staubige Straßenpflaster geschrieben hatte. Hatte er gehofft, dorthin zu gelangen — wenn schon nicht direkt ins Paradies, dann doch wenigstens in seine Nähe? Doch dieser Gedanke schien mir absurd zu sein, geradezu ketzerisch, zumal von einem Dominikanermönch. Wir können doch nur hoffen, dass ER uns in SEINER Gnade dermaleinst ins Paradies aufnimmt. Das Paradies oder der Ort ewiger Verdammnis, diese beiden Ziele allein sind es, die am Tag des Jüngsten Gerichts einer jeden Seele offenstehen.

Venite benediciti patris mei possidete paratum vobis regnum a constitutione mundi. Discedite a me maledicti in ignem eternum qui paratus est dyabolo et angelis eius.

Doch wenn es sich bei diesem Land um eines von dieser Welt handelte - welches mochte es sein? Wer waren die Periöken? Und warum sollten die letzten Gedanken eines sterbenden Mönches ausgerechnet ihnen gelten?

Ich suchte auf der Weltkarte vergebens nach einem weiteren Hinweis auf dieses rätselhafte Land. Dann las ich den ganzen »Liber floribus«, Seite für Seite, Stunde um Stunde. Meine Rechte schmerzte, denn ich beschirmte mit ihr die kleine Kerze, auf dass so wenig Licht wie nur möglich durch den Spalt unter meiner Zellentür auf den Gang scheinen mochte. Meine Augen tränten. Ich las und las und entdeckte doch kein Wort, das mir weiterhelfen mochte.

Die Vigilien wurden geläutet - ich wankte in die Kirche, sang und betete, taumelte zurück - und dann las ich weiter. So gingen die Laudes dahin und die Prim und draußen wurde es hell, also löschte ich die Kerze und las und las. Doch ich fand nichts.

Zur Terz erhob ich mich mühsam. Mein Kopf dröhnte, Schweiß stand auf meiner glühenden Stirn und meine Augen waren so entzündet, dass ich alles wie durch einen roten Schleier sah. Schwankend stand ich in der Reihe der Mitbrüder — zu schwach, um den Hymnus zu singen.

Danach wollte ich mich zurückschleppen, kraftlos und verzagt, denn ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Doch ein Mönch trat mir in den Weg. Meister Philippe.

Rasch blickte ich demütig zu Boden, damit er mein Gesicht nicht sah, doch da war es schon zu spät.

»Du fieberst ja, Bruder Ranulf!«, rief der Inquisitor besorgt. Sollte ich ihm alles gestehen? Welchen Moment zur Beichte sollte ich nutzen, wenn nicht diesen, da mir Meister Philippe selbst das Fortkommen verwehrte? Ich zögerte. Wäre es nicht das Einfachste, ihm den »Liber floribus« zu übergeben, auf das seltsame Land mit dem unheilschwangeren Namen zu deuten und dann alles weitere dem Inquisitor zu überlassen?

Ich müsste nicht mehr nachdenken, nicht mehr grübeln, nicht mehr kämpfen. Ich könnte alles loslassen, mich ausruhen. Schlafen. Und doch schwieg ich. Denn ich wusste nicht, wie ich dem Inquisitor dies alles erklären sollte. Ich wollte nicht, dass auch nur die Namen von Klara Helmstede oder Lea, der Tochter des Nechenja ben Isaak, fielen. Doch welche Geschichte sollte ich dann Philippe de Touloubre erzählen? Nicht einmal zu einer Lüge hätte ich mich aufraffen können, denn dazu war ich zu erschöpft. Nein, so dachte ich bei mir, ich muss erst selbst mehr wissen, bevor ich mich offenbaren kann. Dann dachte ich gar nichts mehr.