So stand ich denn vor dem Inquisitor, schwankend vor Schwäche, und schwieg. Willenlos ließ ich mich von ihm und einem eilig herbeigerufenen Novizen zum Spital geleiten, wo ich auf einer Pritsche niedersank und in einen unruhigen Fieberschlaf fiel.
*
Ich musste viele Stunden so gelegen haben. Als ich die Augen das erste Mal wieder öffnete, konnte ich die helle Morgensonne wahrnehmen. Das Spital war ein hoher Raum, weiß gekalkt und von großen, spitzbogigen Fenstern erhellt, die Licht und Luft zur Linderung der Qualen hereinließen. In zwei Reihen entlang eines Mittelganges waren schmale, harte Pritschen aufgestellt, die Krankenlager. Zu beiden Seiten lagen mehrere Mitbrüder, die mit verschiedenen Leiden ins Spital geschickt worden waren. Zu meiner Rechten kämpfte ein alter Mönch, der aus der Bretagne bis nach Paris geflohen war, seinen letzten Kampf. Ich hörte seinen rasselnden Atem, doch war ich selbst zu schwach, um mich so weit zu erheben, dass ich zu ihm hinüberblicken konnte.
Durch die rötlichen Nebel des Fiebers nahm ich Bruder Malachias wahr, der gelegentlich nach mir sah. Er brachte mir eine heiße Gemüsesuppe zur Stärkung und flößte mir einen bitter schmeckenden, bräunlichen Kräutersud ein. Nachdem ich die Kelle in einem tiefen Zug geleert hatte, fiel ich in einen todesähnlichen Schlaf. Einmal glaubte ich auch, Meister Philippe am Kopfende meines Bettes sitzen zu sehen.
»Sorge dich nicht, Bruder Ranulf«, hörte ich seine Stimme. »Es gibt noch keine neuen Spuren. Doch werden wir die Sünder finden und bestrafen.«
Vielleicht redete er tatsächlich so beruhigend mit mir. Vielleicht war Meister Philippe aber auch gar nicht bei mir und ich bildete mir dies alles nur ein, verwirrt vom Fieber und zerquält von den vielen Geheimnissen, die ich inzwischen dem Inquisitor gegenüber verborgen hielt.
»Terra perioeci«, hallte es in meinem erhitzten Schädel wie eine magische Beschwörung. Erschrocken hielt ich mir irgendwann den Mund zu, denn ich hatte Angst, dass ich in meinem Fieberwahn diese Worte laut gesprochen hatte. Doch als ich mich mühsam umblickte, da sah ich nur die Kranken zu beiden Seiten und niemanden sonst. Gegen Abend, nach einem weiteren Teller Suppe und einem Löffel eines anderen, weniger bitter schmeckenden Kräutersuds aus der Apotheke von Bruder Malachias, spürte ich endlich, wie die Hitze aus meinem Kopf wich und einer großen, gleichwohl beruhigenden Mattigkeit wich. Während es draußen langsam dunkelte, fühlte ich mich, als hätte ich eine große, schwere Arbeit bewältigt. Ich blickte dem Novizen nach, der durch das Spital ging und einige Talglichter entzündete, welche die fahlen Gesichter von uns Kranken noch weißer schimmern ließen — so, als gehörten wir schon nicht mehr zu dieser Welt, sondern zu jenem Reich, dessen Grenze ein jeder von uns nur einmal überschreitet. Der rasselnde Atem neben mir ging flacher von Stunde zu Stunde. Plötzlich wusste ich, dass der Mönch neben mir die nun anbrechende Nacht nicht mehr überleben würde. Ich betete.
So gingen die ersten Stunden der Nacht dahin. Ich dämmerte, mal lag ich wach, dann schlief ich kurz und tief. Wie aus großer Ferne hörte ich die Glocke, die zu den Vigilien rief. Ein schwaches Läuten - mir, der ich den Atem des bretonischen Mönches hörte, schien es schon die Totenglocke zu sein.
Irgendwann, ich vermag die Stunde der Nacht nicht zu benennen, wurde ich plötzlich hellwach.
Regungslos lag ich auf meiner Pritsche und lauschte. Neben mir vernahm ich das Rasseln des alten Mitbruders, allerdings langsamer und schwächer als zuvor. Zwischen den leisen Atemzügen hörte ich zunächst nichts, doch dann ertönten Schritte. Dann wieder Stille. Lange lag ich so da und horchte. Schließlich hob ich vorsichtig den Kopf. Ich war sicher, dass auf dem Flur vor dem Spital jemand vorbeigeschlichen war, Richtung Kreuzgang.
Lautlos schob ich die kratzige Wolldecke zurück, dann richtete ich mich auf. Mir schwindelte kurz. Ich blickte zu dem bretonischen Mönch hinüber, dessen schlafende Gesichtszüge zerquält waren vom Schmerz. Ich schlug das Kreuz, wagte jedoch nicht, ein Gebet zu murmeln, aus Angst, dass selbst dieses leise Geräusch jemanden auf mich aufmerksam machen könnte. Vorsichtig stand ich auf. Ein Schauder erfasste meinen Körper, als meine nackten Fußsohlen den kühlen Steinboden berührten.
Dann schlich ich los. Wohl zwanzig Schritte waren es bis zur Pforte, die vom Spital auf den Gang hinausführte.
Die ersten zwei oder drei Schritte schwankte ich unsicher, doch dann ließ mein Schwindel nach. Ich sah mich um. Außerhalb der schwachen Lichtkreise, welche die Talgfunzeln warfen, lag das Spital im Dunkeln. Niemand regte sich. Noch zehn Schritte.
Vom Gang her war nichts mehr zu hören. Ich fragte mich, ob mich meine überreizten Sinne getäuscht hatten, doch musste ich mich vergewissern. Noch fünf Schritte.
Würde sich die Pforte geräuschlos öffnen lassen? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie es war, als mich Meister Philippe und der Novize an diesem Morgen in den Raum geleitet hatten, doch war ich zu fiebrig gewesen, als dass ich mich nun noch an Einzelheiten hätte erinnern können. Noch zwei Schritte. »Was machst du da, Bruder Ranulf?«
Gerade noch konnte ich einen Aufschrei unterdrücken. Ich fuhr herum, mein Herz hämmerte, Schweiß perlte auf meiner Stirn. Vor mir stand ein Mönch, die Kapuze weit über den Kopf geschlagen, sodass ich sein Gesicht im schummrigen Licht nicht einmal erahnen konnte.
Ich stotterte unzusammenhängende Worte. »Du fieberst noch«, sagte der unbekannte Mönch. »Wer bist du?«, brachte ich schließlich heraus - und fragte mich zugleich, woher er wusste, wer ich war.
»Ich habe Nachtdienst im Spital«, antwortete der Mönch, doch nannte er seinen Namen nicht. Seine Stimme war tief, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, sie je zuvor gehört zu haben.
Ich zitterte. Meine Zähne schlugen aufeinander und ich schämte mich dafür.
»Komm«, sagte der Unbekannte, »ich geleite dich zurück zu deiner Schlafstatt.«
Er fasste meinen rechten Arm. Seine Hand stützte mich, doch spürte ich, wie fest sein Griff war.
Ich gab auf und ließ mich von ihm zur Pritsche zurückführen. »Du bist gütig«, brachte ich heraus.
Der Unbekannte verneigte sich, als ich mich wieder hinlegte. Dann war er, geräuschlos, wie er erschienen war, wieder verschwunden. Doch ich wusste nun, dass er irgendwo im Dunkel des Spitals war. Keine meiner Bewegungen würde ihm entgehen. So lag ich denn auf dem Stroh und starrte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit. War dies ein Zufall? War jener unbekannte Mönch tatsächlich der, der er zu sein vorgab? Nichts als ein besorgter, hilfsbereiter Pfleger im Spital?
Oder war er ein Wächter wie jener, dem ich schon einmal des nachts nur knapp entronnen war? Vielleicht gar derselbe? Und wenn ja: Wen oder was mochte er wohl beschützen?
Ich lauschte, ob ich noch einmal auf dem Gang Geräusche hören würde. Doch alles blieb still, Stunde um Stunde, bis es schon hell zu werden begann. Nichts konnte man mehr vernehmen. Irgendwann fiel mir auf, wie vollkommen diese Stille tatsächlich war. Die Atemzüge des bretonischen Mönches neben mir waren erloschen.
*
Den nächsten Tag verbrachte ich im Spital. Einige Brüder hoben den alten Mönch, der in der Nacht gestorben war, auf eine Bahre und brachten seinen Körper hinaus. Später hörte ich dann die Totenglocke läuten und noch später die Glocken, die zur Messe riefen. Unauffällig sah ich zu den Mönchen hinüber, die Dienst im Spital versahen. Ob einer von ihnen der Unbekannte jener letzten Nacht sein konnte?