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Ich fühlte mich unbehaglich, versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen.

»Ich möchte gerne den ›Liber floribus‹ des Lambert von Saint-Omer studieren«, sagte ich.

Ich betete, dass kein Zittern in meiner Stimme mitklang, und hielt vor Aufregung den Atem an.

Froissart blickte mich erstaunt an. »Wie seltsam«, murmelte er. »Was ist daran so seltsam, Magister Froissart?«, stieß ich hervor, nun aufs Höchste nervös.

Der Bibliothekar schüttelte den Kopf. »Oh, denkt nicht darüber nach, Bruder Ranulf. Wahrscheinlich ist es bloß ein eigenartiger Zufall. Es ist nur so, dass dieses Werk wohl ein halbes Jahrhundert lang von niemandem hier gelesen wurde. Und nun seid Ihr schon der zweite innerhalb weniger Wochen, der es zu sehen wünscht.« Ich schwankte leicht, dann fing ich mich wieder. »Ein Zufall, sicherlich«, stieß ich gepresst hervor.

»Ich bringe Euch das Buch«, sagte Froissart und verschwand hinter der Schranke.

Währenddessen suchte ich mir ein Pult, das möglichst weit von jenen entfernt war, welche die beiden anderen Mönche mit Beschlag belegt hatten.

Konnte dies wahrhaftig ein Zufall sein? GOTT, so dachte ich, würfelt nicht. Nichts ist Zufall in dieser Welt. Alles folgt einer Bestimmung.

Doch konnte ich es wagen, Froissart nach jenem anderen Mann zu fragen, der den »Liberfloribus« zu sehen begehrt hatte? Wie sollte ich dies anstellen, ohne seinen Verdacht zu erregen? Ich beschloss, erst einmal das Werk gründlich zu studieren und dann vielleicht, so unauffällig wie möglich, die Identität jenes anderen Lesers zu lüften. Nach einer Weile brachte mir Jean Froissart den »Liberfloribus«. Dazu hatte er sich eine dicke Kladde unter den Arm geklemmt. Nachdem er das Werk auf mein Pult gelegt hatte, öffnete er diese Kladde und trug umständlich das Datum des heutigen Tages, den Titel des Buches und meinen Namen ein. Dann verneigte er sich und überließ mich meiner Lektüre.

Meine Hände zitterten leicht, als ich den »Liber floribus« aufschlug. Dies war ein Exemplar, das in edleres Leder gebunden war als das, welches Lea mir überreicht hatte. Die Initialen auf jeder Seite waren in roter Tinte ausgeführt, die Bildnisse und Zeichnungen feiner und mit sichererer Hand gezeichnet. Doch all dies interessierte mich nicht.

Ich hoffte, dass der Kopist dieser Ausgabe aufmerksamer gewesen wäre als jener, der sich mit dem »Liberfloribus« des Geldwechslers beschäftigt hatte. Denn es ist ja so, dass jedes Buch abgeschrieben werden muss, und wer hätte sich nicht über die Fehler und Nachlässigkeiten eines Kopisten erregt? Wie oft kommt es doch vor, dass ein Schreiber, ermüdet vom stundenlangen Tun und vielleicht auch von der Geistesschwere des Textes, den er zu kopieren hat, ein und dieselbe Zeile zweimal abschreibt und dafür eine andere auslässt! Unzählig die traurigen Beispiele, da selbst in heiligsten Texten Wörter vergessen oder durch andere, dem Schreiber geläufigere ersetzt werden. Manchmal fehlen gar ganze Seiten oder Kapitel, weil der Kopist am Morgen nicht mehr weiß, wo er am Abend zuvor seine Arbeit unterbrochen hat, und das Werk, aus dem er abschreibt, an falscher Stelle aufschlägt!

Ich hoffte sehr, dass auch beim »Liber floribus« aus der Bibliothek des Geldwechslers einem Kopisten ein misslicher Fehler unterlaufen sei. Und dass hier, in der edleren Ausgabe im Kollegium de Sorbon, doch vielleicht mehr zu lesen sei über das rätselhafte Land der Periöken.

Doch es dauerte nicht lange, da ward all meine Hoffnung mehr als bitterlich enttäuscht. Denn wie erschrocken war ich, als ich die Weltkarte aus dem »Liber floribus« aufschlug: Die terra perioeci fehlte! Ich rieb meine Augen und wollte es nicht glauben, doch die Karte zeigte dort, wo jenes Exemplar aus der Bibliothek des Nechenja ben Isaak Land gezeigt hatte, nur unbeschriebenes Pergament. Meine Knie drohten nachzugeben und so klammerte ich mich an das Lesepult und bemühte mich, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Als mein Atem wieder ruhiger ging, besah ich mir die Karte noch einmal genauer. Ich nahm den »Liber floribus« hoch und ließ das Licht aus den Fenstern durch das aufgeschlagene Pergament scheinen. Da erkannte ich es: Jemand hatte mit einem feinen Schabmesser an jener Stelle das schwere Pergament um eine Winzigkeit abgetragen — gerade genug, um die Tinte, mit der dort einst etwas verzeichnet war, auszulöschen.

Jemand hatte die terra perioeci aus der Landkarte des Buches getilgt. Ich betastete das Blatt und fuhr dann vorsichtig mit den Fingerkuppen über das Pergament. Kein Zweifeclass="underline" Die Ränder an der Ausschabung waren noch hart. Wäre die Austilgung vor Dutzenden oder sogar Hunderten von Jahren gemacht worden, längst wäre die Stelle durch die Feuchtigkeit wieder leicht aufgequollen, längst wären die winzigen Ränder der Schabspuren durch das Gewicht vieler darüber liegender Seiten bis zur Unfühlbarkeit zusammengedrückt worden. Diese Tilgung jedoch war noch gut zu ertasten und konnte deshalb erst vor kurzem von jemandem vorgenommen worden sein. Vorsichtig schloss ich den Folianten und blickte starr geradeaus. Was sollte ich nun tun?

Mir schauderte und es war mir, als habe mich etwas Kaltes, Dämonisches gestreift, etwas unsagbar Finsteres und unendlich Böses. Etwas, das größer ist als der Mensch und doch nicht GOTTES ist. Wie lange ich so dastand und fröstelte, obwohl doch die Sommerhitze auch diese Halle erwärmte, weiß ich nicht mehr. Mich kümmerte nicht, ob mich die anderen Mönche anstarrten oder nicht. Endlich wachte ich aus meiner Erstarrung auf, griff mir den »Liber floribus« mit einer fast zornigen Geste und trug ihn vom Pult bis zur Schranke. Dort eilte mir Magister Froissart entgegen, die Kladde bereits unter dem Arm.

»Wer hat dieses Buch vor mir gelesen?«, fragte ich. Ich gab mir keine Mühe mehr, mir eine Täuschung auszudenken, es war mir gleichgültig, was der Bibliothekar von meinem Begehr hielt — solange er mir nur gehorchte.

Jean Froissart zögerte kurz, doch dann zuckte er mit den Achseln. »Ich werde es für Euch nachsehen, Bruder Ranulf«, sagte er kühl. Er blätterte eine Weile in der Kladde, dann nickte er und wies mit dem Finger auf eine Zeile.

»Da, seht!«, rief er. »Ich erinnere mich noch, denn es war außerordentlich spät am Abend, als jemand dieses Buch zu sehen wünschte. Ich selbst war nur noch durch einen Zufall hier und wollte gerade die Bibliothek abschließen. Doch er bestand darauf und so brachte ich es ihm.«

»Wer war es?«, fragte ich atemlos.

»Ein Dominikaner«, antwortete Froissart. »Sein Gesicht sah ich nicht, denn es war ja, wie ich Euch sagte, bereits spät. Nur Kerzen erhellten zu jener Stunde den Raum. Euer Mitbruder hatte seine Kapuze hochgeschlagen, sodass seine Züge im Dunkeln lagen, doch er hat mir ja seinen Namen gegeben. Lest selbst!« Und ich las: »Heinrich von Lübeck«.

*

Ich war nicht wirklich überrascht. Irgendwie hatte ich schon erwartet, diesen Namen zu finden. Wer sonst hätte es sein können? Doch brachte mich diese Erkenntnis der Lösung aller Rätsel auch nur einen Schritt näher? Nein, im Gegenteiclass="underline" Es addierte nur ein neues Geheimnis zu jenen vielen hinzu, die mich bereits quälten.

Ich lächelte resigniert und wollte Jean Froissart schon danken und mich müden Schrittes aus der Bibliothek entfernen, ratlos und geschlagen — da stutzte ich.

»Gebt mir noch einmal Eure Kladde, Magister Froissart!«, bat ich den Bibliothekar.

Dieser reichte sie mir bereitwillig und ich studierte noch einmal den Eintrag über Ausgabe und Rücknahme des »Liber floribus«. Irgendetwas kam mir seltsam vor, obwohl doch alles seine Richtigkeit zu haben schien. Den Titel des Werkes las ich und den Namen seines Verfassers; dann Heinrich von Lübeck als denjenigen, der diesen Folianten zu lesen wünschte; dann das Datum, an dem er dies tat. Das Datum.