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Der Eintrag war mit dem Tag des Sankt Quirinus datiert — jenem Tag, an dem wir den entseelten Körper Heinrichs von Lübeck gefunden hatten.

Wer auch immer an jenem späten Abend den »Liber floribus« ausgeliehen und darin den Hinweis auf das Land der Periöken getilgt hatte: Heinrich von Lübeck konnte es nicht gewesen sein, denn der war zu jener Stunde bereits tot.

Zum ersten Mal kam mir der Verdacht, dass Heinrich von Lübeck nicht allein gehandelt hatte. Bislang hatte ich geglaubt, dass es eine einsame Leidenschaft gewesen sein musste, die ihn angetrieben hatte. Eine Leidenschaft, die es zu ergründen galt, dann wäre auch das Rätsel um seinen Tod gelöst. Vielleicht, so vermutete ich bis zu jenem Augenblick, hatte allenfalls auch der Reeder Richard Helmstede seine Finger mit im Spiel gehabt.

Was aber, wenn stattdessen mehrere meiner Mitbrüder etwas mit jenen finsteren Geschichten zu tun hatten? Ich musste an die beunruhigenden nächtlichen Vorfälle im Kloster denken. War Heinrich von Lübeck Teilnehmer jener Treffen zur düsteren Stunde? Oder kam er diesen Versammlungen, gleich mir, eher zufällig auf die Spur — und musste deshalb sterben? Mir schauderte.

Doch selbst wenn ich glauben mochte, dass einer meiner Mitbrüder irgendwie in das Ende Heinrichs von Lübeck verwickelt war, so erklärte mir dies weder die anderen Untaten noch die Bedeutung jenes mysteriösen Landes terra perioeci.

Ich verabschiedete mich von Jean Froissart und verließ das Kollegium. Doch draußen wusste ich nicht weiter. Die Hitze drückte mich nieder. Ich hatte seit Stunden nichts gegessen und getrunken und fühlte mich deshalb schwach und ausgedörrt. Ziellos ging ich durch die Gassen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Doch ich kam nicht weit. Noch auf der Place Maubert gewahrte ich eine Menge. Ich hörte abscheuliche Worte und sah, wie ein paar Marktweiber faulige Apfel warfen. Neugierig trat ich näher — und erbleichte.

Ein paar junge Burschen hatten einen Mann gepackt, den ich zunächst für einen der ihrigen hielt - doch dann erblickte ich das gelbe, aufgenähte Judenmal auf seinem Wams. Die Umstehenden feuerten die Burschen an, die den Unglücklichen übel mit Schlägen und Tritten quälten.

»Sein Blut komme über ihn!«, schrie jemand. »Blut, Blut!«, riefen viele andere.

Und wahrhaftig floss dem Juden bald roter Lebenssaft aus einer Stirnwunde über das Gesicht. »Brunnenvergifter!«, hörte ich aus der Menge.

»Ihr schickt uns den Tod, weil ihr uns Christen hasst!«, keifte ein Marktweib und schleuderte, da ihr die fauligen Äpfel wohl ausgegangen waren, Dung nach dem Juden.

Die Burschen zerrten ihr Opfer bis zur Croix Hemon, dem großen, steinernen Kreuz auf dem Platz. Dort drückten sie sein Gesicht gegen das Bildnis und zwangen ihn so, das Kreuz zu küssen.

Es wäre wohl schlimm ausgegangen mit dem jungen Juden, wenn ich mir nicht ein Herz gefasst hätte und vorgetreten wäre.

Als sie meiner Kutte ansichtig wurde, verstummte die Menge. Die Burschen blickten verlegen zu Boden und ließen von dem Juden ab.

Ich war klug genug zu schweigen. Kein Wort des Vorwurfs oder der Ermahnung richtete ich an die Menschen. Wozu auch? Sie fürchteten sich vor der Seuche - und sie suchten jemanden, an dem sie ihre Angst auslassen konnten. Was hätten da Worte genutzt? Hätte ich denn die Seuche abwehren können? Hätte ich allen Sündern Vergebung versprechen dürfen?

So stand ich einfach da, das Haupt demütig gesenkt, die Hände gefaltet. Diese stumme Geste bewirkte wohl mehr, als es das wohlgesetzteste Wort vermocht hätte; sie säte Unsicherheit in die Herzen der Menschen und vielleicht auch Reue über ihr Tun. Der eine oder andere murmelte einige Sätze, die ich lieber überhörte, doch niemand hob mehr die Hand wider den Juden oder gar wider mich. Die Marktweiber waren die ersten, die zu ihren Ständen zurückkehrten, dann zerstreuten sich auch die anderen. Zuletzt machten sich die Burschen davon, in einer Eile, dass man schon sagen konnte, sie flohen vor mir.

Oh HERR, groß war noch immer die Respekt heischende Macht des Habits der Dominikaner und gefürchtet war die Inquisition! Gepriesen seist DU, dass DU mir in jenem Moment beistandest, obwohl ich doch der unwürdigste Mönch war im Orden des Heiligen Dominicus.

Der Jude stand benommen auf und wischte sich das Blut von der Stirn. Ich sah, dass er mir danken wollte, doch hob ich die Hand, bevor er den Mund öffnen konnte. Noch immer hatte ich kein Wort gesprochen und ich gedachte, meinen unfreiwilligen Auftritt nun auch schweigend zu Ende zu bringen. So segnete ich ihn, drehte mich um und ging langsam vom Platz in eine dunkle Gasse, die zur Seine hinunterführte.

Die Sünde des Hochmuts fraß an mir, denn ich war stolz auf mich. Ich glaubte, dass ich recht gehandelt hatte. Zugleich jedoch nagte Furcht an meinem Herzen, denn ich ahnte, dass mit jedem Tag, da die Krankheit Paris näherkam, der Hass der Menschen wuchs. Sollte GOTT nicht bald ein Wunder tun, dann würde auch ein Inquisitor nicht mehr helfen können — den Juden nicht und auch niemandem sonst.

*

Dieses unheilschwangere Abenteuer klärte aber immerhin auf geheimnisvolle Weise meinen Geist. Ich strebte nun eilig einem neuen Ziel zu, auch wenn sich mein Leib danach sehnte, endlich auf einer Pritsche ruhen zu dürfen.

Als ich den Hafen erreicht hatte, ging ich ohne Umschweife zur »Kreuz der Trave«. Nachdem ich mich mit einem Blick vergewissert hatte, dass Richard Helmstede nirgends an Deck zu sehen war, betrat ich die Planke, die an Bord der Kogge führte. Ich kümmerte mich dabei nicht um die erstaunten Gesichter einiger Matrosen, die eine große, eisenbeschlagene, doch - besah ich mir die Körperhaltung der Männer und ihre wenig angespannten Mienen — offensichtlich leere Truhe an Bord schleppten. Geradewegs ging ich auf den Steuermann Gernot zu, der auf dem Achterdeck stand und mich unsicher anstarrte — so, als schwante ihm Unheil.

»Ihr wollt Paris bald verlassen?«, fragte ich ihn nach einer kurzen Begrüßung. Ich wusste ja längst, dass die Kogge bereit gemacht wurde für eine lange Reise.

»Das mag wohl so sein, Herr«, antwortete Gernot zittrig. »Das mag wohl so sein«, ahmte ich ihn nach, ehrlich empört. »Meister Gernot, Ihr seid der Steuermann dieses Schiffes. Und Ihr wollt mir sagen, dass Ihr nicht einmal wisst, ob die ›Kreuz der Trave‹ demnächst die Leinen ablegt? Was tun denn Eure Matrosen seit einigen Tagen an Bord? Streichen sie nicht den Rumpf? Nähen sie nicht die Segel? Und sah ich nicht gerade noch einige Männer, die eine große Kiste an Bord brachten? Wozu das alles — wenn nicht, weil eine lange Reise bevorsteht?«

»Senkt eure Stimme, ich flehe euch an, Herr!«, antwortete da der Steuermann und rang die Hände. »Sonst laufen mir noch meine Männer weg!«

Ich sah ihn verwundert an. »Ihr wollt mir sagen, sie laufen davon, wenn sie einen Mönch hören, der die Stimme hebt?«

»Sie haben Angst, Herr. Sie — nein, wir alle haben Angst. Es ist so …« Er bat mich mit einer respektvollen Geste, ihm bis ans Ende des Achterschiffes zu folgen — so weit entfernt von den mittschiffs arbeitenden Matrosen wie möglich.

»Selbstverständlich weiß ich, dass wir die ›Kreuz der Trave‹ seeklar machen«, fuhr der Steuermann nun fort. »So lauteten ja auch die Anweisungen von Herrn Helmstede. Es ist nur so, dass …« Er zögerte lange und seufzte dann tief. »Dass wir weder wissen, wann wir ablegen sollen, noch, wohin die Reise geht. Und Ihr kennt ja die Geschichte von der letzten Fahrt dieser Kogge. Nun fürchten die Männer …«

»…eine Reise zur Hölle«, vollendete ich. »Nun, Gernot, seid versichert: Wenn Ihr einen Inquisitor anlügt, dann reist Ihr ganz sicher zur Hölle.«

Er hob abwehrend die Hände, dann schlug er hastig ein Kreuz. »Nein, ich schwöre es bei der Seele meiner Mutter: Ich weiß nicht mehr über diese Reise als das, was ich Euch bereits gesagt habe.« So kam ich denn, unauffällig genug, wie ich hoffte, auf das eigentliche Anliegen meines Besuches auf der Kogge zu sprechen. »Vielleicht segelt Ihr zum Land der Periöken?«, fragte ich. Gernot sah mich mit erstaunten Augen an. »Wo soll das liegen, Herr?«