»Wir müssen uns eilen!«, flüsterte er.
»Warum?«, wollte ich wissen, während wir schon in unziemlicher Hast durch den Kreuzgang eilten und ich spürte, wie einige Mitbrüder uns misstrauische Blicke zuwarfen.
»Während du mit deiner Krankheit gerungen hast«, erklärte Philippe de Touloubre, ohne dabei jedoch seinen Schritt zu verlangsamen, »habe ich von einem der Spitzel, die regelmäßig für die Inquisition arbeiten, einen Hinweis auf Pierre de Grande-Rue erhalten.«
»Den Vaganten?«, fragte ich erstaunt. Ihn hatte ich inzwischen fast vergessen.
Meister Philippe nickte grimmig. »Endlich glaubt jemand, ihn gesehen zu haben. Er soll bei einem Fleischer untergekommen sein und sich in den großen Schlachthöfen verstecken.«
Ich verzog angeekelt den Mund. »Ein wahrhaft teuflisches Versteck, denn welcher Mensch würde schon freiwillig an solch einen grausigen Ort gehen?«
»Wir werden dorthin gehen. Und zwar sofort!«, verkündete der Inquisitor und bedachte mich mit einem sardonischen Lächeln. Ich schlug ein Kreuz und wappnete mich — meine Suche nach dem Land der Periöken musste ich wohl oder übel auf einen anderen Tag verschieben.
*
Während wir die Rue Saint-Jacques Richtung Seine hinuntereilten, fragte ich mich, ob der Vagant etwas mit der terra perioeci zu tun haben könnte. Doch was? Mochte es ein »Land der Vaganten« geben? Oder ein Lied, in dem jenes geheimnisvolle Reich beschrieben wurde? Wir eilten über den Petit Pont, die Insel im Schatten von Notre-Dame und schließlich den Grand Pont. Auf der anderen Seite der Seine wandten wir uns nach rechts, ließen die Place de Greve hinter uns und eilten einen schmutzigen, doch angenehm schattigen Weg entlang, der »Ufer der Ulmen« genannt wurde.
Unterwegs blickte ich mich unauffällig zum Hafen um: Dort ragte noch immer der Mast der »Kreuz der Trave« auf. Ich sah ein paar Matrosen an Deck stehen, doch hatten sie offenbar nichts mehr zu tun. Richard Helmstede und der Steuermann Gernot waren nirgends zu erblicken. Mein Herz schlug schneller vor Freude und Wollust, denn solange die Kogge in Paris blieb, solange durfte ich hoffen, die Gattin des Reeders wiederzusehen.
Je länger wir entlang der Seine stromaufwärts gingen, desto ärmlicher wurden die Häuser am Uferweg. Ginster, Brennnesseln und Brombeeren wucherten nun am Rande des Weges. Der Boden war schlammig und selbst in der Sommerhitze standen noch kleine Tümpel fauligen Wassers, deren Miasmen schrecklich stanken. Doch dies alles war nichts im Vergleich zu dem, was sich unseren Augen und Nasen schließlich bei den Schlachthöfen bot. Diese bestanden aus einigen großen, grob aus Ziegeln und Eichenbalken zusammengefügten Hallen am Ufer der Seine. An der dem FIuss abgewandten Seite öffnete sich ein unregelmäßig geformter, staubiger Platz vor den Gebäuden.
Hier erblickte ich Bauern, Stallknechte und allerlei zwielichtige Gestalten, die gebundene Rinder, Schweine, Ziegen, Kaninchen, Hühner und auch manches verletzte oder alte Pferd mit groben Worten und noch gröberen Schlägen zu den Schlachthöfen trieben. Noah selbst wird niemals ein derart erbärmliches Klagen vernommen haben! Die Protestlaute der größeren Tiere klangen mir wie das verzweifelte Flehen erwachsener Menschen in den Ohren, die Schreie der kleineren Tiere gemahnten mich an das Weinen von Kindern. Dieses animalische Klagen und die menschlichen Flüche und Spottworte, das Rumpeln eisenbeschlagener Karrenräder auf Steinpflaster und das markerschütternde Brüllen, das aus dem Innern der Schlachthöfe drang, bildeten zusammen einen derart infernalischen Lärm, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Noch schlimmer war jedoch die andere, die der Seine zugewandte Seite der Schlachthöfe. Denn hier war alles voller Blut: Aus offenen Steinrinnen und tönernen Rohren ergoss sich beständig der Lebenssaft der Tiere aus dem Gebäude auf den Uferstreifen, der wohl auf hundert Schritte Länge braunrot war und noch morastiger als andernorts. Auch sah ich überall Innereien und hin und wieder gar einen abgeschlagenen Ochsenschädel. Rot färbte sich das Wasser der Seine und dünne Blutfäden wurden von der Strömung mitgetrieben, Richtung Place de Greve und Notre-Dame.
Es stank so sehr, dass ich kaum zu atmen wagte. Dicke, schillerndschwarze Fliegen standen in großen, dunklen Wolken über dem roten Boden und den schauderlichen Hügeln aus verwesenden Gedärmen. »Lasst uns gehen und den Prévôt royal bitten, ein paar Sergeanten hierher zu schicken. Die mögen nach dem Vaganten suchen«, flehte ich Meister Philippe mit erstickender Stimme an. Doch der schüttelte nur grimmig den Kopf. Dann schlug er sich die Kapuze hoch und legte eine Falte des Stoffes über seinen Mund. »Sie würden sich schaudernd abwenden, wie du dich auch am liebsten abwenden würdest«, gab mir der Inquisitor schließlich zur Antwort. Seine Stimme klang dumpf hinter der groben Wolle seiner Kutte. »Die Sergeanten würden dann melden, dass sie niemanden gefunden haben, auf den die Beschreibung des Pierre de Grande-Rue zutrifft. Und sie hätten dabei nicht einmal gelogen - denn wer nicht sucht, der wird auch nichts finden.«
Er schüttelte den Kopf und kam näher. »Es hilft uns nichts und niemand: Wir selbst müssen hier nach dem Vaganten Ausschau halten.«
»Wo sollen wir anfangen zu suchen?«, fragte ich — und gleich darauf wurden meine schlimmsten Befürchtungen war. Der Inquisitor deutete auf die erste Halle der großen Schlachthöfe, aus deren Innern die Schreie sterbender Tiere erklangen und die Blutströme quollen, die in der Seine versickerten. »Pierre de Grande-Rue, so heißt es doch, versteht das Messer zu führen wie niemand sonst. Wenn er tatsächlich hier Unterschlupf gefunden hat - dann an dem Ort, wo Messerstecher gebraucht werden wie nirgends sonst!«, rief der Inquisitor grimmig. Keiner achtete zunächst unser, als wir uns den Schlachthöfen näherten und unsere Schritte auf eine kleine Pforte zu lenkten. Auch ich hatte mir inzwischen die Kapuze vors Gesicht geschlagen. Ich hatte gehofft, meinen Atem so lange als möglich anhalten zu können, sodass ich nur selten gezwungen war, einen neuen Zug jener infernalischen Luft in meinen Körper zu saugen. Doch ich war erregt und der Wollstoff vor meinem Mund hinderte mich. So keuchte ich denn heftig, als hätte ich große Anstrengung hinter mir. Die Pforte erschien mir, kaum, dass ich sie durchschritten hatte, wie ein Zugang zur Hölle. Düster war es hier, denn Licht fiel nur durch wenige, zudem verschmutzte Fenster hoch in den Wänden. Es war so heiß wie in einer Schmiede. Hunderte Männer erblickte ich, welche die Tiere, die den Tod rochen und in Panik davonstieben wollten, roh zu hölzernen Bänken zerrten. Menschen und Tiere schrieen so laut, dass ich glaubte, mein Kopf müsse platzen.
An den Schlachtbänken standen Männer, die nur mit zerlumpten Beinkleidern angetan waren. Ihre Gesichter, ihre Hände und Arme, ihre nackten Oberkörper waren blutrot, als wären sie Dämonen. Sie schwangen lange Messer oder kurzstielige Beile, mit denen sie rasch Kehlen durchschnitten oder Köpfe abschlugen - je nachdem, wie ihnen die Häscher das Tier darboten. Das Blut der sterbenden Tiere bespritzte die Schlächter. Was nicht auf ihrer Haut kleben blieb, das tropfte von den Bänken in steinerne Wannen, von denen die Rinnen gespeist wurden, die ich draußen erblickt hatte. Übelkeit stieg in mir hoch und ich glaubte, ich würde meine Sinne verlieren. Doch der Inquisitor sah sich ungerührt um, dann stieß er mich an. Er deutete auf einen der Schlächter.
»Pierre de Grande-Rue«, zischte Meister Philippe. Seine Stimme zitterte vor Triumph.
Auf den ersten Blick vermochte ich den Hünen in einer der hinteren Schlachtreihen kaum von den anderen unterscheiden, so über und über war auch er mit Blut bedeckt. Doch dann sah ich, dass er außergewöhnlich groß war, kräftig und dick, dass er rote Haare hatte und einen roten Bart; in seiner Rechten hielt er ein Messer, das noch länger war als das der anderen Männer, die hier ihrem finsteren Gewerbe nachgingen.