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Doch kaum hatten wir einen Schritt tiefer hineingetan in den Schlachthof, da blickte der Mann zufällig auf. Als er unserer Kutten gewahr wurde, stieß er einen gurgelnden Schrei aus - und schleuderte sein Messer in unsere Richtung.

Für einen Moment, der kaum mehr als ein Augenzwinkern gedauert haben konnte und mir doch wie eine kleine Ewigkeit vorkam, sah ich das schillernde, scharfe blaue Eisen genau auf mich zufliegen. Ich war starr vor Schreck.

Dann spürte ich einen harten Stoß in die Rippen, der mich zur Seite warf. Ich stürzte auf den schmierigen Boden — und dort, wo ich eben noch gestanden hatte, steckte das lange Messer zitternd in einem Eichenbalken. »Bist du unverletzt?«

Ich sah das Gesicht des Inquisitors, der sich über mich gebeugt hatte. Zum ersten Mal zeigten seine Züge Angst.

»Ihr habt mir das Leben gerettet, Meister Philippe!«, keuchte ich, während ich mich zugleich mühte, wieder auf die Beine zu kommen. »Hättet Ihr mich nicht gestoßen, dann …«

Der Inquisitor hob die Hand. »Genug!«, rief er nur. »Wir müssen ihn fangen!«

Ich blickte zu den Schlachtbänken: Pierre de Grande-Rue war verschwunden.

»Hinterher!«, befahl Meister Philippe.

Wir achteten nicht länger unserer Würde, rafften die Kutten hoch und rannten los. Vorbei an schwitzenden Ochsen, lahmenden Pferden und wild flatternden Hühnern, vorbei an Bauern, die angstvoll das Kreuz schlugen oder uns Hohnworte hinterherschleuderten, vorbei an der Reihe der Schlächter, die in ihrem mörderischen Tun innehielten. »Wohin ist er gelaufen?«, schrie der Inquisitor sie an. Da deutete einer auf eine offene Pforte, die in die Rückwand eingelassen war, direkt neben einer Blutrinne.

Wir rannten dorthin, traten hinaus ins Freie und versanken im braunroten Morast.

Der Vagant war nirgends zu sehen.

»Dort entlang!«, rief der Inquisitor. Er deutete auf Fußspuren, die in dem weichen Boden deutlich auszumachen waren. Wir folgten ihnen entlang der Rückwand des Schlachthofes. Ich stolperte und fiel in den Schmutz. Meister Philippe eilte mir davon.

Doch selbst er blieb stehen, als er ans Ende der Wand gelangt war. Die letzte Spur zeigte an, dass Pierre de Grande-Rue auf den Vorplatz gerannt sein musste, doch im Gedränge aus Mensch und Tier war er nirgends auszumachen. Ratlos sahen wir uns um, dann gingen wir auf gut Glück über den Platz.

»Wir haben ihn verloren«, sagte ich schließlich resigniert. Meister Philippe nickte, doch schien er nicht sonderlich enttäuscht zu sein. »Geduld ist eine Tugend, die einem Inquisitor wohl ansteht«, ermahnte er mich. »Haben wir erst einmal eine Spur, dann haben wir auch irgendwann den Sünder. Ich habe Katharer und andere Ketzer zur Strecke gebracht — und ich glaube nicht, dass dieser Vagant hier verschlagener ist, als jene es waren. Wir werden ihn finden!«

So kehrten wir denn, besudelt mit Blut und Dreck und stinkend nach Tod und Verdammnis, zum Kloster zurück, nachdem wir das Messer des Vaganten aus dem Balken gezogen hatten. Auf dem Weg in die Rue Saint-Jacques wollte ich Meister Philippe noch einmal dafür danken, dass er mir durch seinen Stoß das Leben gerettet hatte, doch er lächelte nur, segnete mich und sprach: »Es war der HERR selbst, der meine Hände führte. Denn mein Geist wusste nicht einmal, was ich da tat, so schnell ging alles vonstatten. Mir scheint, als habe ER noch Großes mit dir vor. Warum sonst hätte ER dich behütet?«

*

Die nächsten beiden Tage führte mich Meister Philippe wieder zu den Schlachthöfen. Mir schauderte beim Anblick dieses finsteren Ortes und ich zitterte, wenn ich die Schlachtermesser sah. Außerdem brannte ich darauf, endlich die Spur vom Land der Periöken weiter zu verfolgen. Doch blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Inquisitor zu fügen.

Wir fragten einige Schlächter und Knechte aus und erfuhren so, dass sich der Mann, der vor uns geflohen war, tatsächlich Pierre de Grande-Rue nannte. Niemand allerdings wusste mehr über ihn zu sagen, denn er arbeitete erst seit wenigen Tagen an den Blutbänken. Und niemand vermochte uns zu verraten, wo der Vagant wohnte. Ihn selbst erblickten wir in jenen beiden Tagen nicht. Auch die Männer, die wir befragten, schworen, dass sie ihn seit jener Flucht nicht mehr gesehen hatten.

»Es ist, als hätte er schon gestanden!«, sagte Meister Philippe trotzdem triumphierend am zweiten Abend unserer vergeblichen Suche in den Schlachthöfen. »Flieht jemand vor einem Inquisitor, dann gilt dies bereits als Eingeständnis seiner Schuld.«

»Ich würde jedoch gerne auch ein Geständnis in Worten hören«, wagte ich zu erwidern. »Denn ich bin gespannt auf das, was uns der Vagant zu berichten hat.«

Da lachte Meister Philippe und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Er wird uns alles erzählen, Bruder Ranulf. Nur Geduld!« Wir waren schon in der Rue Saint-Jacques, nur noch wenige Schritte von unserem Kloster entfernt, als ich im Schatten unter dem Erker eines Hauses einer Gestalt gewahr wurde: Dort stand eine schlanke, offensichtlich junge Frau, die trotz der drückenden Hitze einen hellen Schleier um das Haupt trug. Als ich an ihr vorbeischritt, hob sie mit ihrer Linken kurz den feinen Stoff — und ich erkannte Lea, die Tochter des Geldwechslers. Ich wäre vor Überraschung fast gestolpert.

»Verzeiht, Meister Philippe«, stammelte ich, »ich bin etwas ermüdet.« Der Inquisitor lächelte mir gütig zu. »Du wirst gleich ruhen dürfen, Bruder Ranulf«, erwiderte er.

Während wir an die Klosterpforte klopften, blickte ich mich rasch noch einmal um: Lea hatte den Schleier wieder vor ihr Gesicht gelegt. Sie wartete im Schatten des Hauses.

Ich sah, dass sie wieder keinen gelben Flicken auf ihrem Gewand trug. So fiel sie zwar weniger auf, wenn sie durch die Straßen ging, doch ausgerechnet vor dem Kloster der Dominikaner, der Heimstatt der Inquisitoren, ein derartiges Risiko einzugehen …! Sollte sie jemand erkennen, würde sie unweigerlich im Kerker enden. Schweiß brach mir aus, denn ich wusste, dass ich mich beeilen musste. Jeder Augenblick, den ich zögerte, vergrößerte die Gefahr für die junge Jüdin.

Also verabschiedete ich mich im Kreuzgang von Meister Philippe und ging gemessenen Schrittes in meine Zelle. Dort zählte ich im Geiste bis einhundert, dann spähte ich vorsichtig wieder auf den Gang. Niemand war zu sehen.

Also eilte ich zurück, durchmaß den Kreuzgang und grüßte an der Pforte den alten Portarius. »Meister Philippe schickt mich noch auf einen Botengang«, erklärte ich ihm, da mir auf die Schnelle keine bessere Ausflucht einfallen wollte. Dann war ich draußen. Gemessenen Schrittes ging ich die Rue Saint-Jacques hinunter Richtung Seine. Ich sah mich nicht um, doch spürte ich, wie sich Lea, kaum dass ich sie passiert hatte, aus dem Schatten an der Hauswand löste und mir dichtauf folgte.

»Ich bin so froh, dass wir kurz miteinander sprechen können«, flüsterte sie.

»Wir haben nur ein paar Augenblicke Zeit«, erwiderte ich. Dann setzte ich, weil dies so kaltherzig klang, eilig hinzu: »Aber auch ich freue mich, dich wieder zu sehen.« Und dies war keine Lüge.

Es war schön, die junge Tochter des Geldwechslers hinter mir zu wissen, auch wenn ich nicht wagte, den Kopf zu wenden. Nur gelegentlich, mit einem Blick aus den Augenwinkeln, erhaschte ich eine Bewegung ihres grazilen Körpers; ihre fein geschnittenen Züge waren unter dem Schleier gänzlich verborgen.

Vielleicht waren es diese Reize des Weibes, die mich, nachdem ich erst ein paar Schritte getan hatte, eine Entscheidung treffen ließen. Vielleicht war es aber auch ein Gefühl, das mir sagte, allein die kluge und mutige Jüdin könne mir nun noch helfen. Jedenfalls entschloss ich mich, Lea das zu enthüllen, was ich selbst dem Inquisitor Meister Philippe verschwiegen hatte.

In wenigen, hastigen Worten erzählte ich ihr, unter welchen Umständen ich den Namen terra perioeci gelesen hatte. Ich berichtete vom »Liberfloribus« aus der Bibliothek ihres Vaters — und von jener Handschrift aus dem Kollegium de Sorbon, in der jemand jeden Hinweis auf das geheimnisvolle Land getilgt hatte.