Wir waren bis zum Petit Pont gelangt, als ich mit meiner Geschichte zu Ende war. Ich verharrte einige Augenblicke am Ufer, dann ging ich langsam wieder zurück; Lea folgte mir stets. Ich konnte nur hoffen, dass wir keine Aufmerksamkeit erregten.
»Bruder Ranulf, ich danke Euch für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt«, flüsterte die junge Jüdin und Freude durchströmte mich ob dieser lobenden Worte.
Memores estote uxoris Loth. Quicumque quaesierit animam suam salvare perdet illam et qui perdiderit illam vivificabit eam. »Was soll ich nun tun?«, setzte sie dann hinzu. »Ihr müsst mir helfen«, bat ich. »Geht in die Bibliothek Eures Vaters und studiert dort alle Bücher. Sucht nach der Terra perioeci. Auch der kleinste Hinweis mag wichtig sein. Auch der unbekannteste aller Gelehrten, ja selbst die der Häresie verdächtigen Autoren mögen uns etwas mitteilen, das uns helfen kann, das Geheimnis zu lösen. Eilt abends, so wie heute, vor das Kloster, wenn Ihr etwas entdeckt habt. Ich werde Euch finden und mit Euch sprechen können. Derweil werde ich die Bibliothek des Kollegiums de Sorbon aufsuchen und dort ebenfalls nach gelehrten Werken suchen, die ein Licht werfen könnten auf jenes Land.«
Lea schwieg, da uns gerade ein paar Marktweiber passierten, doch sah ich aus den Augenwinkeln, dass sie zustimmend nickte. »Noch etwas«, flüsterte ich, als die Frauen außer Hörweite waren. »Hat Euer Vater je etwas mit einem Vaganten zu schaffen gehabt, der sich Pierre de Grande-Rue nennt?«
Die junge Jüdin war so beherrscht, dass sie selbst bei dieser Frage, die ihr sicherlich seltsam dünkte, keine Überraschung zeigte. »Vaganten haben keine Scheu, mit Juden zu reden«, antwortete sie. »Und sie kommen viel herum. So zahlen Geldwechsler ihnen hin und wieder kleine Summen, damit ihnen das Fahrende Volk Neuigkeiten bringt. Über Armut und Reichtum in fremden Städten etwa oder wo sich gute Handwerker finden lassen oder welcher hohe Herr sich mit den Vaganten auf Glücksspiele und dergleichen einlässt. Auch mein Vater lädt manchmal Vaganten in sein Haus. Doch ich kenne deren Namen nicht, denn diese Leute stellen sich einer Frau nicht vor und mein Vater vermeidet es, mit mir über sie zu sprechen.«
»Ich meine einen Vaganten, der sehr groß und dick und dabei kräftig ist. Er hat feuerrote, wilde Haare und einen ebensolchen Bart. Wer ihn einmal gesehen hat, der vergisst seine Erscheinung nicht mehr.«
Lea dachte ein paar Augenblicke nach. »Nein«, gab sie schließlich zur Antwort, »ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Mann gesehen zu haben, auf den Eure Beschreibung zutrifft. Doch ich könnte versuchen, meinen Vater unauffällig nach seinem Wissen über die Vaganten auszufragen«, entbot sie.
»Tut das«, antwortete ich und hätte gerne noch mehr Worte an sie gerichtet.
Doch da sah ich zwei Mitbrüder, die mir entgegenkamen. Ich senkte das Haupt, ging jedoch weder schneller noch langsamer. Lea musste die Mönche ebenfalls gesehen haben — und verstand sofort. Sie folgte mir noch eine kurze Wegstrecke, dann bog sie in eine Seitengasse ein. So verschwand sie lautlos hinter meinem Rücken, ohne dass wir uns voneinander verabschieden konnten. Ich traf meine Mitbrüder genau vor der Klosterpforte. »Pax vobiscum«, murmelte ich. Zusammen mit den beiden Mönchen, die sich nicht überrascht zeigten, mich in der Abendstunde noch auf der Straße zu sehen, trat ich dann ein.
Doch als ich mich schon in Sicherheit wähnte, fuhr mir der Schrecken in die Glieder. Es war im Kreuzgang, den ich langsam durchschritt — und wo mir plötzlich Meister Philippe entgegenkam.
»Hast du noch einen kleinen Spaziergang unternommen, Bruder Ranulf?«, fragte mich der Inquisitor höflich. »Kannst du keine Ruhe finden?«
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Waren dies nur die freundlichen, besorgten Worte eines älteren Mitbruders oder hatte der Inquisitor etwas geahnt? Hatte er mich gar auf der Straße gesehen und bemerkt, wie mir die verschleierte junge Frau gleich einem Schatten gefolgt war? Würden sich seine scharfen Augen überhaupt von Leas Gewändern täuschen lassen? Hatte er mich also gar gesehen — und wusste zugleich, mit wem ich gesprochen hatte? Sollte ich ihm nun die Wahrheit sagen - oder sollte ich weiter lügen? Ich entschloss mich zur Lüge.
So murmelte ich denn etwas von meiner Besorgnis über die wirren und gefährlichen Ereignisse im Schlachthof und versicherte Meister Philippe, dass ich meine Ruhe nun jedoch wiedererlangt hätte. In unziemlicher Hast nahm ich dann meinen Abschied und eilte zu meiner Zelle. Dort lehnte ich mich an die Wand und atmete tief durch. Ich fühlte mich erschöpft. Und zugleich zitterte ich, denn dies war mir nun klar: Ich hatte den Verdacht des Inquisitors erregt.
*
Der nächste Tag war der des Apostels Thomas. Ein neuer, heißer Julimorgen brach gerade an. Ich war dankbar für die Kühle der Kirche, in der ich mich, noch schlaftrunken, zur Prim einfand. Doch kaum erklangen die Stimmen der Brüder zum ersten Hymnus, entstand Unruhe an der Pforte unseres GOTTEShauses. Ein Novize drängte sich herein, schlich zum Platz von Meister Philippe und flüsterte diesem etwas ins Ohr. Der Inquisitor unterbrach seinen Gesang, dann gab er mir mit der Hand ein Zeichen, ihm zum Ausgang der Kirche zu folgen.
Ich wagte nicht, ein Wort zu sagen, sondern ging schweigend hinter Meister Philippe her bis zum Kreuzgang. Als ich dort ankam, schauderte ich, als hätte ein Engel der Finsternis seinen eisigen Flügel über mein Gesicht hinwegschweben lassen. Denn dort stand jener große, bärtige Sergeant, der uns einst zum toten Heinrich von Lübeck geführt hatte.
»Verzeiht, dass ich Euch aus der Kirche holen lassen musste, Ihr Brüder«, begann er und verneigte sich. Sein Atem stank noch stärker nach Knoblauch, als ich es von unserer letzten Begegnung in Erinnerung hatte. Man sah ihm an, dass ihn ein schlechtes Gewissen plagte und vielleicht auch die Furcht vor uns oder jemand anderem. »Ich muss Euch sagen, dass wir soeben die Schönfrau Jacquette gefunden haben.«
Ich schloss die Augen und schickte ein stummes Gebet zu IHM.
Einen Moment war mir, als hätte sich meine Befürchtung bestätigt und die junge Dirne wäre in die Hände ihrer Häscher gefallen.
Doch es kam noch schlimmer.
»Sie ist tot«, setzte der Sergeant tonlos hinzu.
Ich schwankte, als hätte mir jemand aufs Haupt geschlagen.
»Fühlst du dich nicht wohl, Bruder Ranulf?«
Wie aus großer Ferne vernahm ich die Stimme des Inquisitors.
»Es ist nichts, Meister Philippe«, antwortete ich. »Mich schwächt nur die drückende Hitze.«
Von all den Lügen, die ich dem Inquisitor bis dahin schon erzählt hatte, war keine wohl weiter von der Wahrheit entfernt als diese. »Es ist nichts!« Dabei war mir, als habe man mir das Herz aus dem Leib gerissen. Denn wiewohl ich der jungen Dirne niemals beigewohnt, ja sie kaum einmal mit der Kuppe eines Fingers berührt hatte, war sie mir doch zur ersten Frau in meinem Leben geworden. Ja, bei ihrem Anblick hatte ich wie nie zuvor an die Sünde der Wollust gedacht, sie hatte mich, genau wie es unsere Kirchenväter beschrieben, auf den Abweg geführt, der nun mein Seelenheil bedrohte. Und doch: Ich war glücklich in ihrer Nähe gewesen und geehrt durch ihr Vertrauen. Ein Vertrauen, das sie mir vergebens entgegengebracht hatte. Denn ich hatte sie nicht schützen können. Ich hatte ihr keinen Ausweg gewiesen, nicht aus ihrer Seelenpein und nicht aus Paris, wo ein dunkler Schatten sie bedrohte. Stumm betete ich für ihre Seele und hoffte, dass Jacquette trotz aller ihrer Sünden in SEIN Reich eingegangen war und teilhatte an SEINER Herrlichkeit.
Dann ermannte ich mich. »Ich fühle mich stark genug für diesen Weg, Meister Philippe«, sagte ich laut. Meine Stimme zitterte, doch ich versuchte, energisch zu nicken.