»Gut«, antwortete der Inquisitor, nachdem er mich einen Augenblick lang gemustert hatte, »folgen wir dem Sergeanten!«
Der massige Uniformierte führte uns quer durch die Stadt. Fahl war der Himmel über Paris, noch gab kein Windhauch eine Erfrischung in der lastenden Hitze. Doch fern im Westen stand ein schwarzer Strich am Horizont — und ich hoffte, dass es Wolkentürme seien, die ein Gewitter bringen würden, das uns abkühlte.
Und uns von allem Schmutz und allen Sünden reinwusch.
»Sie haben sie am Baudets-Tor gefunden«, sagte der Sergeant. »Es ist noch keine Stunde her.«
»Wer hat Jacquette entdeckt?«, fragte Meister Philippe. »Ein Färber namens Durant de Brie«, bekam er zur Antwort. »Er wohnt im ›Haus zum Bären‹ neben dem Tor und hat sie gesehen, als er ans Fenster trat.«
»War sie da schon tot?«
Das Gesicht des Sergeanten rötete sich noch stärker als zuvor. »Das haben wir nicht gefragt, Herr. Doch wir haben den Färber festgehalten. Er wird Euch Auskunft geben können.«
Wir legten den Rest des Weges schweigend zurück. Es ging über die Seine, vorbei an Notre-Dame, wo ich Jacquette das erste Mal gesehen hatte. Am anderen Ufer schritten wir bis zur Rue Saint-Antoine, wo wir uns gen Osten wandten. Kurz vor der Stadtmauer führte uns der Sergeant in eine Gasse, die parallel zur großen Straße bis zur Befestigung lief und dort in ein kleines Tor mündete. »Die Porte Baudets«, sagte der Uniformierte und deutete nach vorne. Wir waren im Viertel der Gerber und Färber und es stank nach verwesendem Fleisch, nach fauligem Leder und nach Urin und all den anderen Ingredienzen, mit denen Tierhäute zu feinen Schuhen, weichen Handschuhen und zu Pergament verarbeitet werden. Nur ein paar Schritte entfernt Richtung Seine-Ufer lagen die Schlachthöfe, wo wir Pierre de Grande-Rue aufgespürt und wieder aus den Augen verloren hatten.
»Da liegt sie«, sagte der Sergeant. »Wir haben sie nicht angerührt.« Ich wollte die Augen schließen und konnte es doch nicht. Wie durch böse Magie gebannt starrte ich zu jener Stelle: Es war eine Nische in der Stadtmauer, kaum zwei Armlängen tief und nur wenig breiter, ein paar Schritte neben dem Baudets-Tor.
Jacquette lag dort auf dem staubigen Boden. Die junge Schönfrau war auf dem Rücken ausgestreckt, beide Arme waren vom Körper weggebogen. Man hätte denken können, sie schliefe tief - wären ihre Augen nicht weit aufgerissen gewesen und hätten starr in die Unendlichkeit geblickt. Ihr wirres, offensichtlich seit Wochen ungewaschenes braunes Haar hatte sich wie ein Schleier um ihr Haupt gelegt. Ihr Körper erschien mir noch magerer als das letzte Mal, da ich sie gesehen hatte. Doch das mochte auch daran liegen, dass sich ihr Brustkorb nun nicht mehr hob und senkte. Ihre rechte Brust war entblößt, denn das schäbige Gewand war dort zerfetzt, doch erkannte ich dies erst bei genauerem Hinsehen. Braunrot eingetrocknetes Blut hatte sich darüber ergossen. Es war aus einem tiefen, breiten Stich oberhalb der Brust geflossen.
Qui enim mortuus est iustificatus est apeccato. »Verzeih mir, Jacquette!«
So sprach ich in Gedanken zu ihr, während der Inquisitor ihren toten Körper schweigend umkreiste. »Du warst die geringste aller Dirnen - und doch hätte ich dich freudiger beschützt als selbst den Papst. Doch ich habe versagt. Ich war zu schwach, um dir beizustehen in deiner Stunde der Not. Ich war nicht klug genug, den dunklen Schatten aufzuspüren, der dich belauert hat. Aber ich schwöre dir bei allen Heiligen: Ich werde diesen Schatten finden und er soll auf dem Scheiterhaufen brennen!«
Während ich dies dachte, zuckte kein Muskel in meinem Gesicht. Meister Philippe sollte denken, dass ich schweigend und bewegungslos wartete, bis er seine Beobachtungen abgeschlossen hatte. Als der Inquisitor sich endlich wieder aufrichtete, trat auch der dünnere der beiden Sergeanten zu uns, den ich ebenfalls schon am Schauplatz jenes Mordes getroffen hatte, der mich in die düsteren Verwicklungen von Paris hineingezogen hatte.
»Sie wird in der Nacht gestorben sein«, sagte Meister Philippe leise. Dann gab er dem neu hinzugetretenen Sergeanten einen Wink. »Geh und hol mir den Bader Nicolas Garmel! Er mag noch mehr sehen als ich es hier tue.«
Während sich der Uniformierte eilig auf den Weg machte, wandte sich Meister Philippe an mich. »Was denkst du, Bruder Ranulf? Was ist geschehen?«
Ich schluckte und hoffte, dass meine Stimme weder Trauer noch Rachedurst verriet. »Jacquette mag versucht haben, durch eines der kleineren Stadttore aus Paris zu entkommen«, antwortete ich. Je länger ich sprach, desto ruhiger wurde ich. Es war, als würden mir die klaren Überlegungen den Kopf frei machen von den Nebeln der Leidenschaft. War dies vielleicht der Grund, warum der Inquisitor mich um meine Meinung bat?
»Wenn sie fliehen wollte, dann hat sie vielleicht jemand abgefangen und umgebracht. Vielleicht hat sie sich auch all die Tage im Viertel der Gerber und Färber versteckt gehalten. Schließlich sind die Miasmen hier ungesund, vor allem im Sommer mit seiner Hitze. Hier werden die Sergeanten weniger genau gesucht haben als andernorts. Trotzdem ist es von hier aus kein allzu langer Weg zu den Gassen um Notre-Dame, wo sie die Männer fand, die für ihre Dienste zahlten. Dann mag es Zufall sein, dass sie am Baudets-Tor erstochen wurde. Kein Zufall jedoch ist ihr Tod. Er zeigt uns, dass derjenige, der sie gesucht hat, sie am Ende auch fand.«
Ich holte tief Luft. »Und wer immer der Schönfrau nach dem Leben trachtete: Es war jemand, der mit einem Messer zustach. Diesmal, anders als bei Heinrich von Lübeck, zeigen die Hände keine Wunden. Mag sein, dass die Dirne ihren Mörder kannte und nicht erwartete, dass dieser eine Waffe zückte. Vielleicht hat sie ihn für einen der Männer gehalten, denen sie zu Willen sein musste.
Es mag aber auch sein, dass der Mörder sie überraschte und ihr keine Zeit mehr blieb, sich zu wehren. Zum Beispiel…« Lange zögerte ich, dann sprach ich meinen Verdacht aus. »Zum Beispiel, indem er mit dem Messer nicht zustieß - sondern es warf. Die Schlachthöfe sind nicht weit. Und so, wie Pierre de Grande-Rue dort das Messer nach mir geschleudert hat, so könnte er es auch nach der Schönfrau geworfen haben. Nur dass sie keinen Freund hatte, der sie aus der tödlichen Bahn der Waffe stieß.«
Ich konnte nicht mehr weitersprechen, denn nun überkamen mich doch Reue und Scham.
Der Inquisitor nickte. »Du hast viel gelernt, mein junger Bruder. Bedenken wir noch, dass auch der sündige Domherr Nicolas d'Orgemont aus dem Leben gerissen worden ist, dann bleibt nur eine Schlussfolgerung: Der Mörder Heinrichs von Lübeck hat diejenigen umgebracht, die Zeugen seiner schändlichen Tat waren.«
»Allerdings haben weder der Domherr noch die Schönfrau sagen können, wer Heinrich von Lübeck erstochen hat«, wagte ich nach kurzer Überlegung einzuwerfen.
Meister Philippe nickte. »Das ist wohl gesprochen. Doch weiß dies auch der Unhold, den wir suchen? Immerhin hat uns Jacquette doch so viel sagen können, dass wir auf die Spur des Vaganten Pierre de Grande-Rue gekommen sind. Ist er also der Mörder?«
»Es scheint mir so zu sein«, antwortete ich nachdenklich. »Er hat zudem sein Messer nach uns geschleudert. Mich schaudert es, doch mag es sein, dass er auch uns, die wir ihm auf den Fersen sind, nach dem Leben trachtet. Die Kutten werden uns nicht schützen. Er hat schon bewiesen, dass er nicht einmal davor zurückschreckt, einen Mönch zu erstechen. Und einen Domherren von Notre-Dame, falls er auch diese Untat begangen hat.«
Der Inquisitor strich sich bedächtig über die Wange. »Nur eines verstehe ich nicht«, murmelte er. Dann leuchtete wieder die Jagdlust in seinen Augen auf. Sein Gesicht und seine Stimme verrieten, welche Freude er daran hatte, dass sich ihm ein neues Rätsel auftat, kaum dass wir glaubten, ein altes gelöst zu haben.