»Warum«, fuhr Meister Philippe schließlich fort, »sollte Pierre de Grande-Rue diese schrecklichen Taten verübt haben? Die Morde am Domherren und an der Schönfrau - gut, da mag er unliebsame Zeugen für immer zum Schweigen gebracht haben. Doch warum die allererste Todsünde? Warum sollte ein Vagant aus der französischen Provinz, der eher zufällig nach Paris gelangt ist, einen Dominikaner aus Deutschland, der auch erst seit kurzer Zeit in der Stadt weilt, niederstechen? Zumal es dem Täter offenbar nicht um Geld ging, denn die Münzen — ein weiteres Rätsel - trug Heinrich von Lübeck ja noch bei sich.«
In diesem Moment kamen gleich mehrere Männer auf uns zu: Der hagere Sergeant in Begleitung des Baders Nicolas Garmel. Und aus Richtung der Rue Saint-Antoine stürmte, gefolgt von einigen Wachen, Ambroise de Lore auf uns zu. Dem Prévôt royal stand die Zornesröte im Gesicht, sodass seine Züge leuchteten wie Blut — ebenso wie seine scharlachrote Amtstracht.
»Ist dies die Hure, die den Mord an dem Mönch beobachtet hat?«, fragte er, kaum dass er angelangt war. In seiner Erregung hielt es der Prévôt nicht für notwendig, einen von uns zu grüßen. »Dies war die Schönfrau Jacquette. Sie war die beste Zeugin, die wir hatten«, antwortete der Inquisitor gelassen.
»Wer hat ihr das angetan?«, wollte de Lore wissen. »War es der Verfluchte, der auch den Dominikaner entseelt hat?«
»Das ist möglich«, gab Meister Philippe zurück. Da fluchte der Prévôt so lästerlich, wie es seiner Stellung wahrlich nicht geziemte. »Meister Philippe!«, rief er. »Ihr wisst doch, wie es in Paris gärt! Ihr kennt die Gerüchte von der Seuche draußen im Land. Ihr wisst, dass das Volk Blut sehen will - von den Juden oder von sonst jemandem. Wenn es nach mir ginge, könnten sie ruhig alle Juden verbrennen, doch Ihr wisst, dass es dabei nicht bleiben wird, wenn das Volk erst einmal Gefallen gefunden hat am Töten und Plündern. Und Ihr wisst, dass viele Bürger glauben, all das Unglück habe mit der ungesühnten Mordtat an einem Mann GOTTES begonnen.
Was, glaubt Ihr, wird nun geschehen, wenn das Gerücht die Runde macht, dass der Mörder des Mönches wieder zugeschlagen hat? Dass er nicht nur frei herumläuft, sondern auch noch neue Opfer sucht? Ihr wisst, dass ich keine Boten mehr über Land schicken kann, weder zum König noch zum Papst. Zu unsicher sind die Straßen in Frankreich geworden, zu allgegenwärtig ist der Tod. Doch ich schwöre Euch: Wenn Paris brennen sollte, dann müsst auch Ihr Mönche ans Sterben denken! Denn der Zorn des Volkes wird dann keine Grenzen kennen.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, antwortete der Inquisitor — und ich meinte, eine Spur von Spott in seiner Stimme zu vernehmen. »Misitque et decollavit Iohannem in carcere et adlatum est caput eins in disco et datum est puellae et tulit matri suae.
Wollen wir unterdessen den Bader befragen? Mag sein, dass er Spuren sieht, die uns zum Mörder führen, bevor Euer Palast und unser Kloster in Flammen aufgehen.«
Meister Philippe wandte sich an Nicolas Garmel. Er erzählte ihm kurz, welchen Verdacht wir hegten. Besonders betonte er, dass die Schönfrau möglicherweise nicht durch ein gestoßenes, sondern durch ein geworfenes Messer niedergestreckt worden war.
»Sieh dir die Schönfrau gut an«, ermahnte er ihn schließlich. »Gut möglich, dass es hier noch mehr zu entdecken gibt.«
In diesem Moment ließ uns ein machtvolles, lang gestrecktes Grollen erzittern. Dann wurde der Himmel finster — so finster, möchte ich glauben, wie er zur letzten Stunde war, da unser Heiland noch am Kreuze leiden musste.
»Das Gewitter ist da«, flüsterte der Prévôt und schlug ein Kreuz.
Die ersten, schweren Regentropfen klatschten auf das Pflaster. »Eile dich!«, ermahnte der Inquisitor den Bader. »Bevor das Wasser Spuren wegwäscht.«
»Ich muss die Tote dafür entkleiden, Meister Philippe«, gab Garmel zu bedenken. Der dicke Bader schwitzte stark - ob vor Anstrengung in der drückenden Hitze oder vor Aufregung, das vermochte ich nicht zu sagen.
»Dann tue es hier, auf der Straße. Sofort! Wir werden uns ein paar Schritte zurückziehen, auf dass wir ihren entblößten Körper nicht in Augenschein nehmen müssen.«
Mit diesen Worten gab der Inquisitor uns ein Zeichen. Der Prévôt und ich folgten ihm bis unter das Baudets-Tor, wo wir vor dem Regen ein wenig geschützt waren. Die Uniformierten schlugen ihre Mäntel schützend über ihre Häupter und bildeten einen Kreis um den Bader und die Tote, auf dass kein Neugieriger ihnen zu nahe käme. Doch diese Maßnahme war überflüssig, denn wieder grollten Donner heran. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel. Wie aus dem Nichts kam plötzlich ein kühler Wind auf, der uns erschauern ließ. Dann öffneten sich die Schleusen des Himmels. Der Regen stürzte dicht und schwer zu Boden - so dicht, dass ich den Bader kaum noch sehen konnte und den Körper der dahingeschiedenen Schönfrau gar nicht mehr. Er war so schwer, dass ein Klatschen und Dröhnen einsetzte, das alle anderen Laute erstickte. Wie verlorene Statuen standen die verhüllten Wächter bewegungslos im Unwetter. Und wir drei Gestalten, die wir uns unter das Tor drängten, verharrten in tiefstem Schweigen.
Wohl eine halbe Stunde mochte vergangen sein, bevor der Bader zu uns kam. Nicolas Garmel war nass, als wäre er in die Seine getaucht worden, doch trotz des Regens und der Kühle glühte sein Gesicht rot. »Es ist, wie Ihr gesagt habt, Meister Philippe«, verkündete er. »Die Schönfrau ist erstochen worden. Es ist gut möglich, wenn auch durch nichts zu beweisen, dass das tödliche Messer geschleudert wurde.« Der Inquisitor nickte. »Ist die Wunde von dem gleichen Messer gerissen worden wie bei Heinrich von Lübeck?«
Der Bader kratzte sich am Haupt. »Das kann ich nicht sagen, Herr.
Ganz sicher war es auch diesmal ein Messer, kein Schwert, keine Lanze, kein Spieß, keine Axt. Doch ob es tatsächlich dieselbe Waffe war - das zu bestimmen vermag ich nicht.«
»Hast du sonst noch etwas gefunden?«
»Die Schönfrau muss Hunger gelitten haben, denn sie war sehr mager. Ich entdeckte zudem etliche Wunden und Narben von älteren Verletzungen, vor allem an den Armen und am Rücken. Doch ich fand nichts, das ihr in den letzten Stunden ihres Lebens beigebracht worden wäre.«
»Trug sie etwas bei sich?«, wagte ich einzuwerfen. Nicolas Garmel schüttelte den Kopf. »Nein, nicht einmal einen Sous. Auch keinen Schmuck. Nur die elenden Gewänder, die sie am Leibe hatte. Nicht einmal Schuhe.«
Das verwunderte mich. Denn die wenigen Male, die ich Jacquette gesehen hatte, war sie zwar ärmlich gekleidet, doch hatte sie stets Holzpantinen an den Füßen gehabt.
»Also wollte sie nicht aus Paris fliehen«, sagte ich zu dem Inquisitor. »Denn hätte sie dies vorgehabt, dann wäre sie doch sicherlich nicht ohne Schuhe losgezogen.«
»Aber warum sollte sie ohne Schuhe durch Paris gegangen sein?«, wandte Meister Philippe ein.
Ich dachte nach — und plötzlich hatte ich ein ebenso klares wie schreckliches Bild vor meinem inneren Auge. Ein Bild, das mich schaudern ließ.
»Jacquette ist verfolgt worden!«, rief ich. »Jemand hat ihr irgendwo aufgelauert oder sie bedroht. Da ist sie geflohen. Und um besser laufen zu können, hat sie die Holzpantinen abgestreift. Sie ist gerannt, bis …«
»… sie zur Stadtmauer kam und in der Falle saß«, vollendete der Inquisitor. »Gut möglich, Bruder Ranulf. Doch hätte sie sich dann nicht gewehrt? Müssten wir davon nicht Spuren sehen?« Dann gab er dem Bader einen Wink. »Du kannst gehen, vielen Dank«, murmelte er. Zum Prévôt gewandt sagte er: »Lasst Eure Wächter die Tote zum Friedhof bringen. Begrabt sie in geweihter Erde«, setzte er hinzu.
»Wir hingegen«, verkündete der Inquisitor schließlich, »wollen nun das ›Haus zum Bären‹ besuchen. Ich nehme an, dass es der Färber Durant de Brie nicht verlassen durfte?«
Der dicke Sergeant nickte eilfertig. »Wir haben ihm befohlen, sich für Euch zur Verfügung zu halten, Meister Philippe.« Die Wucht des Gewitters war inzwischen einem Nieselregen gewichen, der uns benetzte, doch niemandem mehr Furcht einflößte. So gingen wir zu einem schäbigen kleinen Haus, das sich ein paar Schritte neben dem Baudets-Turm schief an die Stadtmauer lehnte. Ich warf noch einen letzten Blick auf Jacquette. Ich sah, wie zwei Uniformierte die Kleider, kaum mehr als Lumpen, nachlässig über den weißen, mageren Körper warfen, bevor sie ihn anhoben. Ihre Blöße bedeckten sie nicht, doch breiteten sie ein Gewand über ihren Kopf, sodass man ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Verstohlen schlug ich das Kreuz. Ich betete, dass Jacquette ins Paradies eingehen mochte und dort vielleicht ihren Gatten und all die anderen ihr teuren Menschen fand, die der schreckliche Krieg mit den Englischen und Burgundischen schon vor ihr aus dem Leben gerissen hatte. Ich betete, dass sie, wo immer sie nun weilte, glücklicher war als in unserer Welt der Sünder und Sterblichen. Und ich betete, dass GOTT mir die Klugheit und die Stärke schenkte, den Mann zu finden, der ihr Leben, so elend es auch war, geraubt hatte. Als ich mich gerade abwenden wollte, fiel mein Blick zufällig auf Nicolas Garmel. Der Bader stand bereits einige Schritte abseits von uns. Auch er starrte auf die Tote, doch bemerkte er nicht, dass ich ihn ansah. Garmels Gesicht verriet Trauer — und da war noch etwas anderes. Ich brauchte wohl ein, zwei Augenblicke, bis ich wusste, was mich so verwunderte: Nicolas Garmel sah aus wie ein Mann, den ein schlechtes Gewissen plagte.