Выбрать главу

Auf meinem Weg zum Viertel der Schlachthöfe passierte ich morgens und abends die Seine-Insel und sah auf den Hafen. Dort lag die Kogge unbeweglich wie eine schwimmende Burg. Die Arbeiten der Matrosen schienen eingestellt worden zu sein, doch ich wusste nicht, ob ich dies als gutes oder schlechtes Zeichen zu deuten hatte. Waren die Vorbereitungen für eine große Reise bereits abgeschlossen und musste ich deshalb jede Stunde mit dem Auslaufen der »Kreuz der Trave« rechnen? Oder war, im Gegenteil, diese Abreise auf unbestimmte Zeit verschoben worden?

Gerne hätte ich die Reedersgattin wiedergesehen. Warum es verschweigen? Ich wollte ihr nicht nur Fragen stellen, ich sehnte mich auch nach ihrem Körper und ihren Liebkosungen. Ihr Bild erschien mir oft im Schlaf — und stets waren es wollüstige Träume, die mich dann übermannten. Wie froh war ich nun, dass ich nicht im Schlafraum mit Dutzenden Mitbrüdern nächtigen musste! Denn was hätten die wohl gedacht, hätten sie mich im Schlaf stöhnen gehört wie einen brünstigen Hirschen?

Doch war meine Scham über diese sündigen Nachtgesichter nicht halb so groß wie meine Erleichterung an jedem Morgen, da ich gewahr wurde, dass ich von Klara geträumt hatte.

Denn in den Nächten, in denen ich nicht von meiner Geliebten fantasierte, sah ich im Schlaf das leere Gesicht der toten Jacquette, über das sich ein Schatten beugte, von dem eine Furcht erregende Kälte ausging. Trotz dieser Kälte, die mir ins Herz fraß, wachte ich dann stets schweißgebadet auf und konnte nicht wieder Ruhe finden, bis mich die Glocke zur Prim rief.

So verstrichen meine Nächte mal in sündigen, mal in Schrecken erregenden Träumen, in denen stets eine Frau meine Seele gefangen nahm. Und in den hellen Stunden wuchs meine Unruhe. Denn wurde nicht mit jedem Tag, der nutzlos verstrich, die Gefahr auch für die beiden Frauen größer, deren Schicksal mir nicht nur am Herzen lag, sondern das ich auch noch mitzugestalten hoffte? Vielleicht verfolgte der Schatten nicht Lea oder Klara, doch konnte ich da sicher sein? Da ich nicht wusste, warum er tötete, wusste ich auch nicht, ob der Tochter des Geldwechslers oder der Gattin des Reeders — oder gar beiden — der Tod drohte.

Die einzige Abwechslung in jenen langen, zäh dahinfließenden, erschöpfenden, drückenden sieben Tagen waren die Bauern aus dem Umland, die frisch geschnittenes Heu für das Vieh nach Paris brachten. Überall, so schien mir, stapelten sich nun Ballen, vor Häusern, auf Marktplätzen und am Seine-Ufer. Der herbe, doch frische Geruch nach Heu milderte den Gestank der sommerheißen Stadt, selbst im Viertel der Färber und Gerber.

Doch Meister Philippe betrachtete die Männer und Frauen vom Land sorgenvoll. »Es sind weniger als in den Jahren zuvor«, murmelte er, »viel weniger. Die Ernte muss schlecht sein dieses Jahr. Oder es gibt nicht genug Bauern, sie einzubringen.«

»Wo mögen die Bauern sein?«, fragte ich.

Doch darauf gab der Inquisitor keine Antwort und schlug nur das Kreuz.

*

Am achten Tage kam in aller Frühe ein Diener zum Kloster. Er trug das Wappen des Bischofs von Paris.

»Damit habe ich schon längst gerechnet«, seufzte Meister Philippe, als er des Boten gewahr wurde.

Und tatsächlich: Der Diener überreichte uns ein Schreiben, in dem wir - in ebenso höflicher wie unmissverständlicher Sprache - aufgefordert wurden, uns sofort bei Magister Jean Courtecuisse zu melden, dem ehrwürdigen Bischof von Paris.

»Bringen wir dies schnell hinter uns«, sagte der Inquisitor so leise, dass es der Bote nicht hören konnte.

»Ist es nicht eine Ehre, von Seiner Eminenz empfangen zu werden?«, fragte ich.

»Seine Eminenz führt zwar auch den Titel eines gelehrten Mannes, doch beherrscht er in Wahrheit so wenig Latein, dass er nicht einmal die Heilige Schrift lesen kann«, antwortete Meister Philippe und lächelte dünn.

»Der Oberhirte der Christenheit zu Paris ist, das muss ich leider einräumen, ein Mann eher von dieser Welt als von der jenseitigen. Er verkauft Pfarreien wie gewöhnliches Land, er handelt mit Pfründen, als wären es bloße Stoffballen.

Jean Courtecuisse ist der jüngste Spross einer mächtigen Adelsfamilie. Wiewohl er keine zwei Sätze zu lesen vermag, ist er doch verschlagen und auf eine gefährliche Art klug. Nimm dich also in Acht und hüte deine Zunge, sobald du ihm gegenübertrittst!« Eine gute Stunde später standen wir im bischöflichen Palais, einem mit Säulen, Giebeln und hohen Fenstern gar schön geschmückten Haus neben Notre-Dame. Ein Diakon führte uns in das erste Obergeschoss, wo er uns durch eine hohe Halle geleitete, wo Tapisserien, die Szenen der Jagd verherrlichten, an den Wänden hingen. Trotz der dicken Mauern des Palastes war es im Innern warm und stickig. Daher war ich erleichtert, als uns der Diakon den Weg bis zum Ende der Halle wies, wo eine Tür auf eine Loggia führte, die mit filigranen, gedrehten Säulen und steinernen Fabelwesen verziert war. Hier saß der Bischof auf einem mit rotem Samt ausgeschlagenen, hochlehnigen Stuhl. Seine in Seidenpantoffeln steckenden Füße ruhten auf einem ebenso gepolsterten Fußbänkchen. Jean Courtecuisse war sicherlich an die sechzig Jahre alt und ungeheuer dick. Sein Gesicht war rot und glänzte wie ein polierter Spiegel. Sein Ornat war aus feinsten Stoffen gewirkt. Ein rot-grün karierter, pelzbesetzter Mantel lag um seine Schultern, trotz der drückenden Hitze des Sommers. Ein diamant- und rubinglänzender Gürtel spannte sich um seinen mächtigen Wams. Doch trug er, was mir seltsam dünkte, das kahle Haupt unbedeckt. An jedem seiner zehn fetten Finger steckte ein großer, goldener Ring, sodass der Ring des Bischofs inmitten dieser glitzernden Pracht kaum auszumachen war.

Mit seiner geschmückten Rechten griff er in eine Schale aus Kristallglas und klaubte sich einige kandierte Birnen und Kirschen heraus, die er mit einem Schwung in seinen riesigen Schlund warf. Ein sehr junger, weißgesichtiger Priester hielt ihm die Obstschale hin, dann zog er sich diskret einige Schritte zurück, blieb jedoch im Schatten der Gaube stehen.

Der Bischof reichte uns mit müder Geste seine Hand, auf dass wir ihm den Ring küssten. Wir taten dies mit aller gebotenen Ehrerbietung.

Zunächst schien es so, als ob er bloß mit uns plaudern wolle. Seine Stimme war tief und klang überaus angenehm. Jovial erkundigte er sich nach der Gesundheit unseres Priors und nach dem Stand der Dinge im Kloster. Er bot uns kandierte Früchte an. Meister Philippe antwortete höflich, lehnte jedoch — zu meinem heimlichen Bedauern — die dargebotenen Köstlichkeiten ab, sodass auch ich nicht von ihnen zu nehmen wagte.

Doch nachdem sich dieses unverbindliche Gespräch einige Zeit dahingezogen hatte, wechselte Jean Courtecuisse plötzlich das Thema. »Sagt, Meister Philippe«, hub er an, »mir sind da Vorkommnisse zu Ohren gekommen. Unangenehme Vorkommnisse.« Dann ließ er seine Stimme verklingen und sah uns aufmerksam an. »Eure Eminenz meinen den getöteten Mönch und den ebenso dahingeschiedenen Dekan der Domherren, den ehrwürdigen Nicolas d'Orgemont«, antwortete der Inquisitor ernst.

Der Bischof nickte, sagte jedoch nichts. Seine dunklen Augen glitzerten plötzlich wie die eines Wolfes. Ich begann, mich vor dem Bischof zu fürchten.

»Wir wissen, wer der Täter ist«, fuhr Meister Philippe ungerührt fort. »Zumindest gibt es einen Mann, von dem wir annehmen können, dass er der Unhold ist. Wir wissen auch, in welchem Viertel er sich versteckt hält. Wir jagen ihn. Wir werden ihn bald finden.«

»Das freut mich zu hören«, antwortete der Bischof und stopfte sich wieder eine Handvoll kandierter Früchte in den Mund, nachdem er den jungen Priester mit einer Geste an seine Seite beordert hatte. Dabei strich er mit seinen fetten Fingern kurz und wie zufällig über die Hand des Geistlichen. Weder Meister Philippe noch mir entging indes diese Berührung. Wir wechselten einen raschen Blick und der Inquisitor bedeutete mir, keine Regung zu zeigen. »Es ist überaus beruhigend zu wissen, dass die Inquisition die festeste Stütze der Kirche ist. Gerade in diesen Zeiten«, fuhr Jean Courtecuisse fort. »Ihr wisst so gut wie ich, was das Volk von Paris glaubt; welche Gerüchte in den Straßen geflüstert werden; was von der schrecklichen Krankheit erzählt wird, die angeblich schon fast an unsere Stadtmauern herangekrochen ist; und wie schnell in solchen Tagen Hitzköpfe zu Schwert und Brandfackel greifen könnten. Dies, zumindest, möchte ich als guter Hirte in meiner Herde vermeiden.« Er blickte uns wohlwollend an, doch traute ich seiner Freundlichkeit nicht.