»Ein Buch, mehr nicht«, antwortete der Gefangene hastig. »Es war das Erste, was ich in einer Falte der Kutte finden konnte. Ich begann gerade erst, den Toten abzutasten, da vernahm ich plötzlich aus einer der Seitengassen neben Notre-Dame ein Geräusch. Furcht überkam mich - und ich eilte davon, ohne noch einmal Hand an den Mönch gelegt zu haben.«
»Du hast kein Geld geraubt?«, wollte der Inquisitor wissen. Der Vagant sah ihn überrascht an. »Nein, Herr, ich habe kein Geld bei ihm gefunden. Ich hatte den Toten ja auch kaum angefasst.«
»Und das Buch? Was ist damit?«
»Ich weiß nicht, was es für ein Buch ist, Herr. Ich kann nicht lesen. Doch ich hoffte, dass ich es vielleicht für gutes Geld verkaufen mochte, also versteckte ich es.
Dann jedoch vernahm ich, dass Inquisitoren nach dem Mörder jenes Mönches suchten; und dass sie sich nicht einmal scheuten, Schönfrauen zu befragen und in Tavernen zu gehen. Freunde berichteten mir beiläufig davon, denn es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man Dominikaner bei den Huren und Trinkern erblickt. Niemand ahnte zunächst, dass auch ich etwas mit dem toten Mönch zu tun hatte, doch dann erzählte ich im Rausch irgendjemandem in einer Taverne davon. Ich wusste sofort, dass mir nun Gefahr drohte. Also versteckte ich mich. Gerne hätte ich auch Paris verlassen, doch wagte ich nicht, allein zu fliehen, aus Angst vor der Krankheit, die, wie man sich erzählt, draußen im Land wütet und gar fürchterlich sein soll. Spielleute oder Händler oder irgendjemanden sonst, der Paris verlassen wollte und dem ich mich hätte anschließen können, habe ich jedoch nicht mehr getroffen.«
»Hast du an jenem Abend, da du den toten Mönch ausgeraubt haben willst, noch eine junge Schönfrau mit Namen Jacquette erblickt? Man ruft sie auch ›das Täubchen‹.«
»Nein, Herr, ich bin weggelaufen, so weit und so schnell ich konnte. Zu den Schönfrauen bin ich in jener Nacht nicht mehr gegangen.«
»Und einen Domherrn von Notre-Dame, hast du den vielleicht gesehen? Sein Name ist Nicolas d'Orgemont.«
Der Vagant schüttelte den Kopf. »Ich kenne doch keinen so hohen Herrn«, antwortete er bestimmt. »Und ganz sicher habe ich in jener Nacht keinen Mann der Kirche gesehen. Außer dem toten Mönch selbstverständlich.«
»Das ist also alles, was du zu sagen hast?«, fragte der Inquisitor. Seine Stimme klang plötzlich müde.
»Ja, Herr.« Der Vagant, der spürte, dass Meister Philippe nicht mit ihm zufrieden war, zitterte am ganzen Leibe, obwohl es im Gewölbe heißer und immer heißer wurde, denn hin und wieder ging einer der Folterknechte zum Rost und legte noch mehr Kohlen auf. »Du elender Lügner!«, donnerte der Inquisitor plötzlich so laut, dass uns allen der Atem stockte — selbst den beiden Folterknechten. Die allerdings erholten sich als Erste von dieser Überraschung und warfen sich einen wissenden Blick zu. Einer fing an, seine Hände zu massieren. Der andere entfachte noch mehr Glut auf dem Rost. »Du willst mir also sagen«, fuhr Meister Philippe fort, »dass du den unglücklichen Heinrich von Lübeck nur zufällig erblickt hast. Du warst auf dem Weg zu einer Dirne, da lag er dir im Weg. Finster war die Nacht, so finster, dass du den Toten zunächst mit einem Haufen Lumpen verwechselt hast. Doch kaum bist du näher herangetreten, da weißt du nicht nur unzweifelhaft, dass der Mönch tot ist, nicht einfach nur besinnungslos, ohnmächtig oder verletzt, nein, du weißt sogar genau, woran er gestorben ist: einem Messerstich! Das hast du gerade selbst gesagt.«
»Ich habe schon viele Messerwunden gesehen!«, fuhr Pierre de Grande-Rue auf, doch seine Stimme klang heiser.
»Nicht genug damit«, Meister Philippe hatte sich wieder beruhigt und tat, als hätte er den Einwurf des Gefangenen nicht vernommen. »Du willst uns weismachen, dass du den Toten ausrauben wolltest. Doch einen ganzen Beutel voller Gold- und Silbermünzen lässt du liegen. Dafür stiehlst du ein Buch - obwohl du nicht einmal lesen kannst!«
»Aber das ist die Wahrheit!«, flehte der Vagant. »Mir blieb keine Zeit, den toten Mönch länger zu durchsuchen.«
»Ja, weil diese unglückselige Nacht so still war, bis du plötzlich Geräusche aus einer Gasse vernommen haben willst. Einer Gasse, in der, wie ich Grund habe zu vermuten, sich in jenem Augenblick entweder der Domherr Nicolas d'Orgemont oder die Schönfrau Jacquette oder gar beide aufgehalten haben. Zwei Menschen, die du nie gesehen haben willst — vor denen du jedoch geflohen bist, so schnell und so weit du konntest!«
»Es war doch so finster!«, stammelte der Gefangene. »Und finster ist auch die Aussicht für dich, verstockter Sünder«, verkündete der Inquisitor.
Meister Philippe nickte den Folterknechten zu. »Zeigt ihm die Instrumente!«, befahl er.
Da nahmen die beiden Männer eiserne Zangen zur Hand, dornengespickte Peitschen, Daumenschrauben und Stricke und hielten dem Gefangenen eine glühende Kohle nahe ans Gesicht. Pierre de Grande-Rue weitete angstvoll die Augen. »Gnade!«, kreischte er. »Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen weiß!« Darauf seufzte Meister Philippe, schloss die Augen und betete. Da er stumm blieb und nur die Lippen bewegte, vermag ich nicht zu sagen, welches Gebet er sprach. Doch als er die Augen wieder auftat, schlug er das Kreuz. »HERR, schenke uns Kraft«, murmelte er. Dann blickte der Inquisitor die beiden Folterknechte an und nickte. »Fangt an!«
*
Selbst jetzt, so viele Jahre später, sträubt sich mir die Feder, all das niederzuschreiben, dessen Zeuge ich nun werden musste. Wohl hatte ich in Köln und auch in Paris schon gar manchen Bettler, Verbrecher oder Häretiker gesehen, der im Kerker geschmachtet und die Folter erduldet hatte, später jedoch, dank der Gnade der Richter, wieder freigelassen worden war. Ich hatte Narben auf der Haut gesehen, ausgerenkte Arme, ausgeschlagene Augen und verkrüppelte Hände. Doch hatte ich stets rasch den Blick von diesen Sündenmalen abgewendet. Es waren Verletzungen einer früheren Zeit gewesen, abscheulich anzusehen zwar, doch längst verheilt, so gut es eben ging.
Nun sah ich jedoch, wie diese Wunden geschlagen wurden. Und ich muss gestehen, auch wenn mir die Schamesröte das Gesicht verbrennt, dass ich mit einem Schauder Zeuge wurde — einem Schauder, den nicht nur die Angst in mir hervorrief. Es ging eine seltsame, schreckliche Faszination aus von diesem Schauspiel menschlicher Qualen, von der Farbe des Blutes und vom Geräusch reißender Sehnen, vom Stöhnen des Gefangenen und vom Geruch verbrannter Haut. An Jacquette dachte ich und an Rache, wiewohl mir doch zugleich graute vor dem, was ich miterleben musste. Der Tisch, auf dem Pierre de Grande-Rue gefesselt lag, war in Wirklichkeit gar kein Tisch. Nun erst gewahrte ich seinen wahren Zweck: Es war eine Streckbank. Einer der beiden Folterknechte kam mit schweren runden Hölzern an, die er in eiserne Walzen steckte, die unterhalb der Platte in eichenen Lagern aufgehängt waren. Anschließend begab sich ein Folterknecht zur Walze am kopfseitigen Ende der Streckbank, der andere verharrte an jener der Fußseite — und dann kurbelten beide Männer auf ein leises Kommando hin in entgegengesetzte Richtungen.
Der Gefangene heulte auf wie ein getretener Hund, als seine gefesselten Arme in die eine, seine Füße in die andere Richtung gezogen wurden. Immer straffer spannte sich sein Körper. Sein Gesicht wurde zuerst rot, dann blass. Er schrie, dass ich im Innern meiner Seele zitterte. Doch dann war sein Körper so ausgestreckt, dass die Haut auf seiner Brust und seinem Bauch straff war wie ein Trommelfell. Der Vagant atmete nur noch japsend und hatte keine Luft mehr für Schmerzensschreie. Blut quoll aus seinen Hand- und Fußgelenken, die unbarmherzig von den eisernen Klammern gehalten wurden. Dann erscholl ein Geräusch, als zerreiße jemand einen Streifen Leder - und der linke Oberarm des Gefangenen kam mit einem Ruck wohl zwei Fingerbreit weit aus der Schulter. Pierre de Grande-Rue brachte ein Wimmern zustande, trotz aller Atemnot. Und Nicolas Garmel, der Bader, der doch schon so viele Tote gesehen haben musste, würgte und hustete und wandte sich ab.