Die Folterknechte lösten die Walzen. Seufzend entspannte sich der Körper des Gefangenen ein wenig, während ihm einer seiner Peiniger mit der Kelle Wasser über den Kopf goss. Doch dies war beileibe keine Geste der Barmherzigkeit, wie mir sogleich klar wurde. Vielmehr sollte Pierre de Grande-Rue nur wieder zu Kräften kommen, um die nächste Qual umso länger erdulden zu können.
Der Vagant blieb ausgestreckt und gefesselt, wie er war. Nun jedoch kam einer der Folterknechte mit einer Zange und hielt dem Gefangenen eine glühende Kohle unter den rechten Fuß. Ich vernahm für einen Moment ein leises Zischen und roch den scharfen Gestank verbrennender Haut, dann erfüllte nur noch das Geheul des Vaganten meinen Kopf. Pierre de Grande-Rue schrie und zuckte in seinen Fesseln, doch es nützte ihm nichts. Langsam wurde zunächst seine rechte Fußsohle schwarz gebrannt, dann auch seine linke. Er brüllte und lästerte uns in gar fürchterlichen Worten, doch seine Stimme wurde schwächer und schwächer.
Philippe de Touloubre, welcher der ganzen Prozedur bis dahin mit unbeweglicher Miene zugesehen hatte, gab Nicolas Garmel einen Wink. Der Bader musste vortreten und dem Gefangenen einige scharf riechende Kräuter, die er aus seiner Medizintasche hervorholte, unter die Nase halten. Denn wieder sollte Pierre de Grande-Rue zu Kräften kommen.
»Gestehst du nun?«, fragte der Inquisitor, als die Augen des Vaganten nicht länger glasig waren und man vermuten konnte, dass er wieder bei Sinnen war.
Doch Pierre de Grande-Rue hub nur wieder das Fluchen an und sagte uns in vielen Worten, die GOTT so sehr lästerten, dass ich es nicht wagte, sie ins Protokoll aufzunehmen, dass er uns nicht mehr gestehen könne, als er es bereits getan habe.
»Gut«, erwiderte da Meister Philippe, »dann lasst uns weitermachen.« Da kamen die Folterknechte mit schmalen, langen Zangen an. Ich starrte auf diese Marterwerkzeuge und zitterte plötzlich, sodass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Ich hatte ihren Zweck erkannt: Sie sollten dem Gefangenen die Fingernägel herausreißen. Meister Philippe sah, wie es um mich stand und warf mir einen mitleidigen Blick zu. Dann fasste er mich am Arm. »Wir wollen in den Garten gehen«, sagte er zu mir. »Die beiden Folterknechte werden die Arbeit machen, für die GOTT sie erwählt hat. Nicolas Garmel wird aufpassen, dass der Gefangene nicht stirbt, bevor er uns alles gestanden hat. Ich glaube, dass es bald so weit sein wird.
Ruft uns herbei, wenn er bereit ist!«, befahl er dann einem der beiden Peiniger.
Fast willenlos ließ ich mich von dem Inquisitor aus dem Gewölbe führen. Ich war erleichtert, dass ich die Folter nicht länger mitansehen musste, doch zugleich spürte ich eine brennende Scham in mir. Ich wusste selbst, dass dies ein absurder Gedanke war, und doch: Ich kam mir vor, als würde ich Pierre de Grande-Rue im Stich lassen. Es war mir, als würde ich meine Pflicht als Mönch und Christenmensch nicht erfüllen.
Als wir einige Schritte weit den düsteren, unterirdischen Gang entlanggewandelt waren, hörten wir hinter unserem Rücken einen wilden, eher einem Tier denn einem Menschen entspringenden Schrei. Mir schauderte und ich ahnte, dass Pierre de Grande-Rue soeben seinen ersten Fingernagel verloren hatte.
Eiligen Schrittes strebte ich nach oben und bekümmerte mich nicht einmal mehr darum, dass ich mich am Inquisitor vorbeidrängte. Ich wollte nur noch hinaus, an die frische Luft und unter GOTTES gnädige Sonne.
Erst im lieblich duftenden Garten des Klosters besann ich mich meiner Würde wieder und verlangsamte meinen Schritt. Schamvoll blickte ich zu Boden, als der Inquisitor, der gemessenen Ganges gewandelt war, nach einigen Augenblicken zu mir aufgeschlossen hatte. »Verzeiht mir meine Schwäche, Meister«, murmelte ich. Da hob Philippe de Touloubre die Hand und segnete mich. »Es ist keine Schande, dem Anblick der Folter zu fliehen«, tröstete er mich. »Es ist vielmehr die natürliche Reaktion eines jeden Christenmenschen auf Qual und Blut. Nur wir Inquisitoren dürfen unser Haupt nicht abwenden. Dies erschwert die Bürde unseres Amtes, doch es ist eine Pflicht, die GOTT uns auferlegt hat: Wir müssen der Hitze der Flamme standhalten, denn mit dem Feuer brennen wir die kranken Stellen im Leib der Kirche aus, auf dass der große, strahlende Körper der Christenheit rein und gesund bleibe.«
»Das weiß ich, Meister«, erwiderte ich betrübt, »doch war es für mich bislang stets nur ein Ding des abstrakten Wissens. Jetzt jedoch, da ich die Folter nicht mehr nur in der Theorie durchdacht habe, sondern auch in der Wirklichkeit erleben musste, jetzt, ich gestehe es, ist mein Fleisch schwach geworden, wiewohl mein Geist nach Gerechtigkeit und Ausmerzung der Sünden dürstet.«
»Mein junger Bruder«, Meister Philippe ergriff meinen Arm, eine Geste der Vertraulichkeit, die ich von ihm noch nie erleben durfte. »Mein junger Bruder«, wiederholte er, »die Folter dient zweierlei Zwecken: Sie hält die Mutter Kirche rein und sie öffnet selbst dem verstocktesten Sünder den Weg zur Rettung seiner unsterblichen Seele. Sie hält die Kirche rein, nicht nur, weil wir Häretiker und Verbrecher mit ihrer Hilfe aufspüren. Vielmehr verhindert sie auch, dass die Inquisition und damit die Kirche je ein ungerechtes Urteil spricht und damit selbst sündig wird.
Denn, wie du sehr wohl weißt, niemand kann verurteilt werden, sofern er nicht gestanden hat. Nur das Geständnis zählt vor den Richtern dieser Welt und erst recht vor jenem einen Richter, vor dem wir uns einst alle werden verantworten müssen. Was aber, wenn ein Sünder trotz erdrückender Beweise gegen ihn nicht gestehen will? Sollen wir ihn wieder freilassen? Sollen wir wahrhaftig einen Wolf, einmal gefangen, wieder auf die Herde christlicher Lämmer loslassen?« Ich schüttelte den Kopf. Der Inquisitor blickte mich ernst an. »Unsere oberste Pflicht«, fuhr er fort, »ist es, diese Herde christlicher Lämmer zu schützen. Denke immer daran! Wir sind die DOMINI canes. Haben wir einmal einen Wolf gestellt, dann dürfen wir ihn nicht wieder entkommen lassen.
Und doch gehen wir mit Sündern gnädiger um als der Jäger mit dem Wolf. Denn was ist dieses irdische Leben denn schon anderes denn ein kurzes, von Pein und Angst gezeichnetes Jammertal vor jenem ewigen Leben, dem wir alle teilhaftig sind? Gewiss, die Folter erhöht die Pein, die wir erdulden müssen. Doch wie lange mag sie andauern? Ein paar Stunden, im schlimmsten Fall vielleicht ein paar Tage. Was ist diese kurze körperliche Qual angesichts der Ewigkeit der Höllenqual der Seele? Denn siehe, mein junger Bruder, mit glühenden Zangen mögen wir dem Körper Leid zufügen - doch wir öffnen damit selbst dem verstocktesten Sünder den Weg zurück zu IHM, in dem allein unsere Hoffnung lebt.
Hätten wir jenen Vaganten dort, dessen Schreie dich aus dem Kerker getrieben haben, nicht gestellt und gefangen, was wäre sein Schicksal gewesen? Ihm wäre die Folter erspart geblieben bis zum Ende seiner Tage. Dann jedoch wäre seine sündige Seele unversöhnt in SEIN Reich eingegangen und wäre vor SEINEN Richterstuhl gekommen! Was hätte ER zu Gunsten von Pierre de Grande-Rue in die Waagschale werfen können? Nichts!
Doch so, Bruder Ranulf, wird der Vagant gestehen, früher oder später. Mehr noch: Er wird gestehen und bereuen - und nach seinem Geständnis wird er der gerechten, doch irdischen Strafe zugeführt. Wie aber wird dann die Seele dieses Unglückseligen in SEIN Reich eintreten? Er wird kommen als reuiger Sünder und als jemand, der bereits in unserer Welt Buße getan hat für seine Untaten. Das mag die Waagschale seiner Sünden anheben!
Indem wir Pierre de Grande-Rue also foltern lassen, fügen wir seinem Körper Pein zu — doch wir retten seine Seele. Mit einigen Stunden der irdischen Qual öffnen wir ihm den Weg zur ewigen Seligkeit!« Mit diesen und vielen weiteren, wohlgesetzten Worten linderte der Inquisitor meine Gewissensnot. Ich dankte ihm und bat ihn noch einmal um Vergebung - welche er mir auch großmütig aussprach. Und doch plagten mich im tiefsten Innern meiner Seele Zweifel und Ängste, die ich bis heute nicht zu benennen vermag. Jedenfalls ergriff mich ein Schauder, als einer der beiden Folterknechte zu späterer Stunde im Klostergarten an uns herantrat, sich ehrfürchtig verneigte und nur einen kurzen, unheilvollen Satz sprach: »Der Vagant ist nun so weit, Ihr Herren.«