Выбрать главу

*

Ein Würgen überkam mich, als ich wieder in jenes finstere Verlies trat, das ich einige Stunden zuvor gleich einem Fliehenden verlassen hatte. Schon auf dem Gang zur Folterkammer wehte mir ein Odem aus Kot und Schweiß und verbranntem Fleisch entgegen, der mir schier den Atem nahm. Dann erblickte ich Pierre de Grande-Rue, der noch immer auf der Streckbank gefesselt lag, wiewohl die Folterknechte die Bänder gelockert hatten. Die Arme und Beine des Vaganten waren schrecklich verdreht, seine Hände - ich wagte nicht, sie mir genau anzusehen - glichen blutroten Klumpen. Blut war ihm auch aus Mund und Nase getreten und ihm in breiten Strömen bis auf den Körper geflossen. Der einst mächtige Brustkasten sah eingefallen aus wie der eines alten Mannes. Sein Blick war verschleiert, als er mühevoll den Kopf in unsere Richtung wandte.

»Gnade, Ihr Herren« flehte er. Seine Stimme klang so schwach, dass ich ihn kaum noch verstehen konnte.

Der Bader Nicolas Garmel stand an der Streckbank und rieb den Körper des Unholds mit stark nach Thymian und Wacholder riechenden Tüchern ab, die den Gefangenen erfrischen sollten. »Willst du nun gestehen?«, fragte Meister Philippe. Seine Stimme klang streng.

Als der Vagant nickte, gebot mir der Inquisitor, wieder ans Schreibpult zu treten und mich bereit zu machen, den Bericht getreulich niederzuschreiben.

Mit brechender Stimme — oft musste ihn Philippe de Touloubre ermahnen, deutlicher zu reden — gestand Pierre de Grande-Rue, dass er, erhitzt vom Besuch bei einer Schönfrau, Heinrich von Lübeck erstochen habe, als er diesen zufällig im Schatten von Notre-Dame getroffen hatte. Sein Motiv war die Gier nach Geld, denn bei der käuflichen Frau war er all seine Taler los geworden und suchte sich nun Ersatz zu verschaffen.

Nach seiner grausigen Tat beugte er sich über Heinrich von Lübeck und begann, dessen Kutte zu durchsuchen. Ein Manuskript zog er zuerst hervor, denn es war der größte Gegenstand, den der Mönch bei sich getragen hatte. Den Geldbeutel konnte er allerdings nicht mehr an sich nehmen, denn bevor er weitere Durchsuchungen anstellen konnte, bemerkte er Jacquette und den Domherrn in einer Nebengasse.

Eilig floh Pierre de Grande-Rue vom Platz - nicht ohne sich die Gesichter der beiden Zeugen zuvor einzuprägen und sich vorzunehmen, sie so bald als möglich zu ermorden, um mögliche Zeugen auszuschließen. Was er denn auch tat.

Den Text, den er dem toten Mönch geraubt hatte — und den er nicht zu lesen vermochte —, versteckte er in einem aufgegebenen, halb verfallenen Haus in der Rue Portefion, direkt neben dem Temple. Dort fänden wir es, da es bis zur heutigen Stunde unangetastet geblieben sei, unter der fünften Bodendiele nach dem Eingang, die er gelockert habe.

Warum Heinrich von Lübeck in seinen letzten Momenten »Terra perioeci« geschrieben habe — das konnte oder wollte Pierre de Grande-Rue jedoch auch nach langer Folter nicht sagen. So schrieb ich denn getreulich alles Wesentliche dieses Geständnisses nieder und erschauderte, da ich gezwungen war, noch einmal all der grausigen Taten zu gedenken, die dieser Mann begangen hatte. Heiße Trauer um Jacquette stieg in mir auf, deren zufällige Anwesenheit an jenem düsteren Ort ihr Todesurteil gewesen war. Doch ich bezwang mich und ließ mir keine Regung anmerken. Ich spürte, dass mich Meister Philippe hin und wieder verstohlen beobachtete und wollte mir keine weitere Blöße erlauben. Derweil war die Stimme des Vaganten schwächer und schwächer geworden. Nach den letzten Worten, die ich so getreulich mitgeschrieben hatte, brach er plötzlich ab, keuchte vernehmlich - und fiel dann in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Auch als einer der Folterknechte mit einer glühenden Zange kam und ihm damit in die Lenden brannte, stöhnte er zwar, wachte jedoch nicht wieder auf. Nicolas Garmel eilte zu Pierre de Grande-Rue, zwang den Mund des Gefangenen auf und flößte ihm eine durchdringend riechende, ölige Flüssigkeit ein. Auch dies brachte allerdings keine Besserung. Da erhob sich der Inquisitor und gebot mir, das Protokoll zu unterschreiben und zu datieren. »Ich glaube, wir haben genug gehört. Wir werden Pierre de Grande-Rue wieder vernehmen, wenn er sich etwas erholt hat. Dann mag er sein Geständnis unterzeichnen und warten, bis ein Richter ihm den Prozess macht. GOTT möge ihm gnädig sein.« Er schlug das Kreuz über dem bewusstlosen Gefangenen. »Derweil«, fuhr Philippe de Touloubre dann fort, »werden wir einen kurzen Ausflug unternehmen.«

»Wohin, Meister?«, fragte ich.

»Zur Rue Portefion!«, befahl er. »Ich möchte sehen, was dort unter dem fünften Bodenbrett nach der Pforte versteckt ist.«

So eilten wir Richtung Temple - jener alten, finsteren Burg der Templer, wo einst das Herz dieses mächtigen Ritterordens schlug und wo, so geht die Legende, ihr sagenhafter Schatz gelagert lag. Vom Kloster Saint-Martin-des-Champs aus waren es kaum mehr als ein paar Dutzend Schritte Richtung Norden bis zum Temple. Wir liefen einen Weg entlang, an dem einige ärmliche Hütten standen, umgeben von Feldern. Zu unserer Rechten schimmerte die Stadtmauer von Paris in der dunstigen Hitze des golden heraufdämmernden Abends. Dann bogen wir auf die Rue Portefion, die sich vom Weg, den wir zunächst gegangen waren, nur dadurch unterschied, dass sie etwas breiter war.

Doch mussten wir hier, so kurz vor unserem Ziel und fast schon im Schatten der mächtigen Mauern des Temple, unsere ungeduldigen Schritte einhalten, denn eine Prozession der Dozenten und Studenten der Universität zog an uns vorüber.

Ich weiß nicht, zu welcher Reliquie, zu welcher jenseits der Stadtgrenzen liegenden Kirche die wohl vierhundert oder fünfhundert Gelehrten gezogen waren, doch wunderte ich mich gar sehr, dass selbst sie, die weisesten und klügsten Männer von Paris, kein anderes Mittel der Hilfe gegenüber der drohenden Krankheit mehr sahen als die Prozession. So waren, im Angesicht der Not, die gelehrtesten Professoren und Doctores doch nicht besser als die einfachsten Bauern, die sich auch nicht anders zu helfen wussten als durch Fürbitte, Fasten und Prozession.

In Zweierreihen zogen sie an Meister Philippe und mir vorüber: Die ältesten Professoren zuvorderst, Kerzen in Händen haltend, dann die jüngeren, dann die Studenten, getrennt nach ihren Kollegien. Alle waren sie barfuß und alle sangen sie fromme Hymnen. Der Inquisitor segnete sie.

Ich erblickte jedoch plötzlich einen Schatten am Wegesrand - und erbleichte. Zu beiden Seiten der Prozession zogen Ratten durch den Straßenstaub. Fast schien es mir, als hätten sie sich dem Zug der frommen Büßer beigestellt in satanischem Hohn. Dann erkannte ich die gewöhnlichen Ratten mit braunem Fell, wie man sie stets in allen Städten und Dörfern trifft. In ihrer Mitte jedoch krochen auch die fast unterarmlangen schwarzen Ratten mit, die doch sonst die Todfeinde der braunen Tiere sind und die nur auf den Feldern und in den Wäldern leben. Vielen Tieren, ob braun oder schwarz, quoll Blut aus dem Maul. Sie fürchteten die Menschen nicht mehr — und die Professoren und Studenten, fromme Lieder singend, schienen sie nicht zu sehen.

Ich schlug das Kreuz und flüsterte ein PATER noster. Und selbst Meister Philippe, der zunächst mich ansah, dann meinem Blick folgte und so ebenfalls der Ratten gewahr wurde, tat es mir gleich. »Wir wollen zum Versteck des Vaganten eilen«, sagte er düster. »Ich glaube, unsere Zeit wird knapp.«

*

Wir fanden ohne Schwierigkeiten das verfallene Haus, das uns Pierre de Grande-Rue beschrieben hatte. Die Rue Portefion führte an der Mauer des Temple entlang, im rechten Winkel zu der Straße, auf der ich mit Bruder Anselm von Köln kommend gen Paris gewandert war. Im Umkreis von einigen Dutzend Schritt rund um die finstere Festung stand kein Haus — so, als ginge von der Burg ein Fluch aus, der Fluch der Templer; so, als müssten nicht nur der König und der Papst vor diesem Fluch zittern, sondern auch die Bauern und Knechte, welche die Felder um die strahlendste Stadt Frankreichs bestellten. Einzig eine Hütte erhob sich nur wenig über das hohe, fast erntereife Getreide: kaum mehr als ein schäbiger Verschlag, flach, mit schiefem, hinten eingefallenem Dach, ohne Fenster, mit einer leeren Höhle in der Straßenseite statt einer Tür. Disteln und Brombeeren hielten die morschen hölzernen Seitenwände umklammert - und vielleicht verhinderten sie allein, dass diese erbärmliche, wohl schon vor vielen Dutzend Jahren aufgegebene Behausung nicht schon längst ganz zusammengestürzt war.