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Kein Mensch war weit und breit zu sehen, im dornigen Gestrüpp regte sich keine Ratte, keine Eidechse huschte über die sonnenwarmen Wände, nicht einmal der Gesang eines Vogels war hier zu vernehmen.

Mir kam es wie eine Mahnung GOTTES vor, dass ER uns schließlich bis hierhin geführt hatte. Da stand, fast zum Greifen nah, der Temple vor unseren Augen, die Festung des einstmals mächtigsten Ritterordens der Menschheit. Und, da die Templer legendär reich gewesen waren, das größte Schatzhaus des Abendlandes. Den Schatz hatte niemand je gefunden, denn sein Versteck hatte der Großmeister des häretischen Ordens nicht einmal unter der Folter und auf dem Scheiterhaufen preisgegeben. Es gab nicht wenige, die ihn noch immer irgendwo in den Mauern der Burg verborgen glaubten. Doch nicht zu diesem legendenbehafteten Ort hatte ER unsere Schritte geleitet - sondern zu einer schäbigen Hütte, die so ärmlich war, dass nicht einmal Tiere sich in ihr verirrten. Hier sollten wir unseren Schatz finden, nicht in der Burg der stolzen Templer. »Ein gut gewähltes Versteck«, sagte der Inquisitor und so etwas wie Anerkennung schwang in seiner Stimme mit.

Wir traten ein. Es dauerte einige Augenblicke, bis meine Augen sich an das Halbdunkel in der Hütte gewöhnt hatten. Hätte ich nicht gewusst, dass Pierre de Grande-Rue sich diesen Ort erwählt hatte, mir wäre nicht aufgefallen, dass er einem Menschen als Versteck diente. Ich sah zwar sofort viele verwischte Fußspuren im dicken Staub, der den Boden bedeckte, doch wie alt diese Spuren waren, das vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte wohl gedacht, dass-sich hier vielleicht ein Bettler oder Wandersmann für eine Nacht ein ruhiges Plätzchen gesucht hätte.

Nun aber, da ich wusste, was der Vagant gestanden hatte, bemerkte ich, wie sorgfältig er seine Bleibe getarnt hatte: Ein paar Armvoll altes Stroh, wie zufällig an einer Seitenwand hingeworfen, erkannte ich als Schlafstatt, die nicht nur leidlich bequem war, sondern von der aus ein Liegender auch durch die Öffnung in der Hüttenfront einen Blick auf den Weg hatte, ohne dabei selbst sofort entdeckt zu werden. Im schiefen, aus groben Blöcken gemauerten Kamin lag Asche, die nicht mit jener feinen Staubschicht bedeckt war, welche doch den Boden mit graubraunen Schleiern überzog — ein Indiz dafür, dass hier vor noch nicht allzu langer Zeit ein Feuer gebrannt haben musste. Eine morsche Truhe, deren teilweise zerbrochene Bretter den Blick auf ihr leeres Inneres freigaben, stand nur scheinbar zufällig fast direkt an der Türöffnung.

Der Inquisitor hatte einen raschen Blick zum Boden geworfen und lächelte dünn. »Die Truhe steht genau über dem fünften Bodenbalken. Wir wollen sie ein wenig verrücken«, sagte er und packte so rasch zu, dass ich, obwohl ich ihm beisprang, keine Hilfe mehr leisten konnte: Kaum hatte Philippe de Touloubre die Truhe beiseite gezerrt, blickten wir auf ein Brett, das nur lose auf dem Boden auflag. Der Inquisitor bückte sich, hob das Holz hoch und griff in die dunkle, längliche Öffnung, die sich darunter auftat.

»Die Wahrheit ist Preis und Segen der Folter, Bruder Ranulf!«, rief er triumphierend und holte einen in dickes, braunes, schon brüchiges Leder gebundenen Kodex hervor.

Doch als der Inquisitor den Umschlag aufschlug, erkannte ich, dass es gar kein normales Buch war. Ich rang erschrocken nach Luft: Es war ein Werk der Geografie.

Langsam blätterte Meister Philippe die Seiten um. Und wiewohl ich nicht wagte, ohne eine Aufforderung von ihm näher heranzutreten, sah ich doch, dass es zwölf Landkarten waren, die, geschickt gefaltet, in einem Kodex zusammengebunden waren. Ich warf flüchtige Blicke auf Länder und Meere, auf Gebirge, Flüsse und Städte, auf verwirrende Linien und feine Zeichnungen, auf ein Gewirr aus schwarzen, roten, grünen, gelben, blauen und hellroten Farbflecken, die ich auf die Schnelle nicht zu deuten vermochte.

Der Inquisitor hatte den Kodex in der Mitte geöffnet, etwas darin geblättert und hatte dann erst die erste Seite aufgeschlagen. Ich, der ich meine Neugier kaum noch zu beherrschen wusste, streckte mich und wollte einen Blick auf jenes erste Blatt erhaschen. Einen Ozean sah ich dort verzeichnet, ich konnte allerdings nicht sehen, welches Meer es sein sollte.

Darüber prangte in großer Schrift der Titel des Werkes, den ich ebenfalls nicht zu lesen vermochte. Immerhin jedoch gelang es mir, den Namen des Kartografen zu entziffern, denn der war noch größer und zudem in auffälliger roter Schrift geschrieben. Er hieß Castorius aus Ravenna - und ich, der ich mir doch noch vor wenigen Wochen auf meine Studien und meine Gelehrsamkeit so viel eingebildet hatte, hatte diesen Namen noch nie vernommen.

Ich zermarterte mir noch mein Gehirn und suchte in meinem Gedächtnis vergebens nach irgendwelchen Erinnerungen an diesen Gelehrten, da bemerkte ich, wie der Inquisitor blass wurde. Die Hände von Meister Philippe zitterten, doch sagte er kein Wort. Ich war überrascht, ja erschrocken und versuchte, noch einen letzten Blick auf jenes erste Blatt des Kodex zu erhaschen, bevor der Inquisitor den Band mit einer raschen, heftigen Geste zuschlug. Und da erzitterte auch ich: Denn in jenem Ozean auf dem ersten Blatt, den ich nicht zu deuten vermochte, da lag ein großes Land. Quer über Berge und Flüsse hatte Castorius, der unbekannte Kartograf, diesen Namen geschrieben: terra perioeci.

*

Meister Philippe und ich starrten uns eine endlos lange Zeit schweigend an. Es war nicht nötig, dass wir Worte wechselten. Wir wussten beide, was wir soeben gesehen hatten.

Schließlich seufzte der Inquisitor. Dann nahm er den Kodex und verstaute ihn in einer ledernen Tasche, die er am Gürtel seiner Kutte trug. Das Werk des Castorius schlug er nicht noch einmal auf. Enttäuscht blickte ich ihn an, doch Meister Philippe schüttelte den Kopf.

»Wir wollen dieses Buch nicht hier studieren«, beschied er mir entschieden. »Und nicht jetzt. Später werden wir die Muße dazu haben. Nun wollen wir zum Kloster Saint-Martin-des-Champs zurückeilen. Die Mönche dort sollen Boten zum Prévôt royal und zum Bischof von Paris entsenden und den edlen Herren sagen, dass wir den Mörder des Heinrich von Lübeck und des Nicolas d'Orgemont gefangen und überführt haben.

Doch vor allem wollen wir diesen Mörder selbst noch einmal dringlich befragen, wenn es sein muss, auch unter der Folter. Ich glaube nun nämlich nicht mehr, dass Pierre de Grande-Rue des Lesens nicht kundig ist. Ich will noch heute Abend wissen, was er uns über ein Land erzählen kann, das terra perioeci genannt wird.« So gingen wir denn in ebenso unziemlicher Hast unseren Weg zurück, wie wir ihn gekommen waren. Doch unsere Eile war vergebens: Als wir in Saint-Martin-des-Champs anlangten, erblickten wir die beiden Folterknechte und Nicolas Garmel im Garten. Die zwei Knechte ließen einen Weinschlauch kreisen und blickten gleichmütig in die rote Abendsonne, der Bader jedoch war blass und zitterte am ganzen Leib. »Das bedeutet nichts Gutes«, flüsterte der Inquisitor, als wir der drei Männer ansichtig wurden.

»Der Gefangene ist tot«, meldete uns einer der Folterknechte denn auch sofort. Sein Gesicht blieb reglos.

»Wie konnte das geschehen?«, fragte Meister Philippe den Bader streng.