Nicolas Garmel fiel auf die Knie, Tränen rannen über seine Wangen. »Verzeiht mir, Herr«, flehte er. »Ich konnte den Vaganten nicht länger in diesem Leben halten. Ich wollte ihm einen stärkenden Trank einflößen, doch gelang es mir nicht, seinen Geist wieder zu wecken. So kippte ich ihm zwar den Trank in den Mund, doch Pierre de Grande-Rue konnte ihn nicht mehr hinunterschlucken. Er wurde rasch schwächer und schwächer und starb schließlich.«
»Er hat nicht noch einmal das Bewusstsein erlangt?«, vergewisserte sich der Inquisitor. Zorn und Enttäuschung schwangen in seiner Stimme mit.
Der Bader zitterte noch stärker. »Nein, Herr.«
»Hat er, da sein Geist schon umnachtet war, trotzdem noch etwas gesagt? Hat er Worte gemurmelt - Worte, die dir vielleicht sinnlos erschienen sind? Lateinische Worte?«
Nicolas Garmel schüttelte den Kopf und auch die beiden Folterknechte verneinten.
»Gut«, sagte der Inquisitor und holte tief Luft. »So war es denn GOTTES Wille, dass Pierre de Grande-Rue sein letztes Geheimnis mit ins Grab nehmen durfte. Wir wollen sehen, dass wir dieses, das letzte Rätsel auf anderen Wegen zu lösen vermögen. Auch wenn es nun vielleicht gar nicht mehr wichtig ist, denn der Täter hat seine irdische Strafe schon gefunden. Ich segne Euch und vergebe Euch den Tod des Gefangenen.«
Dann wandte sich Meister Philippe an mich. »Ich werde zum Prior von Saint-Martin-des-Champs eilen und ihn bitten, die Boten zum Prévôt royal und zum Bischof unverzüglich loszuschicken. Ich werde zuerst meinem Prior einen Bericht erstatten und dann den beiden hohen Herren selbst einen ihnen sicherlich nicht unwillkommenen Besuch machen.
Du wirst dich vergewissern, dass Pierre de Grande-Rue auch wirklich dies irdische Jammertal verlassen hat. Dann wirst du seinen Tod im Protokoll festhalten. Dieses Protokoll wirst du dann ins Kloster bringen. Dort werden wir uns zu späterer Stunde wieder treffen. Ich werde es unterschreiben und siegeln. Damit ist der Fall abgeschlossen - auch wenn wir beide wissen, dass es noch eine Frage gibt, die ihrer Beantwortung harrt.
Für den Prévôt royal, den Bischof und auch unseren Prior jedoch mag es schon reichen, dass der Täter gefunden und für immer unschädlich gemacht worden ist. Nun eile dich!«
Er segnete mich, dann gebot er mir mit einer Geste, noch einmal ins finstere Verlies hinabzusteigen.
Ich gehorchte dem Inquisitor, wiewohl mir wieder das Herz bis zum Halse schlug. Die Folterknechte blieben in der Sonne sitzen, doch der Bader musste mich begleiten, denn ich wollte einen sachkundigen Mann an meiner Seite haben, wenn ich den Toten erblickte. Auch wollte ich, ich muss es gestehen, nicht allein diesen düsteren Ort betreten.
Schweigend standen Nicolas Garmel und ich einige Augenblicke später an der Streckbank. Pierre de Grande-Rue lag noch immer in Fesseln dort, doch war diese Maßnahme längst überflüssig. Denn ohne Zweifel war der Vagant tot.
Selbst wenn er noch gelebt hätte, er wäre nicht mehr fähig gewesen, die Streckbank aus eigener Kraft zu verlassen. Ich blickte auf seine ausgerenkten Gliedmaße, die verkohlten Füße, die Brandmale überall an seinem Körper, die blutigen Hände, das fahle, selbst noch im Todesschlaf vom Schmerz gezeichnete Gesicht.
»Quält Euch nicht, Herr Garmel«, sprach ich dem Bader respektvoll Trost aus. »Selbst der Leibarzt des Papstes hätte diesen Mann wohl nicht mehr von der Schwelle des Todes fortzerren können.«
»Da irrt Ihr Euch, Bruder Ranulf«, widersprach er mir da und seufzte tief.
Ich blickte ihn überrascht an. »Wie könnt Ihr das sagen?«, fragte ich. »Welcher Mensch könnte solche Verletzungen überleben?«
»Ich«, wisperte da der Bader so leise, dass ich zunächst glaubte, mich verhört zu haben. »Ich«, wiederholte er dann mit festerer Stimme, »habe diese Qualen überlebt.«
»Ihr seid gefoltert worden?«, stieß ich ungläubig hervor.
Der Bader nickte, dann setzte er sich auf einen Schemel, überwältigt von Schwäche und seinen Erinnerungen.
»Oh, Bruder Ranulf«, gestand er mir, »ich war ein Ketzer, so sündig wohl wie dieser Vagant. Zwar habe ich nie einen Menschen getötet, doch war ich einst in meiner Jugend, als ich noch Badergehilfe in der schönen Stadt Carcassonne war, ein Anhänger jener Häretiker, die heute kaum noch einer kennt und deren Namen niemand mehr auszusprechen wagt, ohne zu erzittern.«
»Ihr wart«, ich zögerte, »Ihr wart Katharer?«
Der Bader nickte schmerzlich. »Ja. Und ich muss Euch wohl nicht sagen, welcher Inquisitor meinen Sünden schließlich auf die Schliche kam.«
Lange schwiegen wir beide und hingen unseren Gedanken nach. Ich wagte nicht, Nicolas Garmel nach Einzelheiten zu fragen. Doch schließlich ergriff der Bader von selbst wieder das Wort. »Meister Philippe verfuhr gnädig mit mir. Ich lag auf der Streckbank einst wie dieser Unglückliche heute. Ich leugnete, wie Pierre de Grande-Rue geleugnet hatte. Ich wurde gefoltert wie er — und ich gestand schließlich meine Sünden wie er, als die Qualen meine Verstocktheit lösten.
Doch GOTT war gnädiger mit mir als mit diesem Vaganten: Drei Tage lag ich nach meinem Geständnis wohl auf der Schwelle des Todes, doch ER ließ mich ins Leben zurückkehren. Dabei wollte ich dies gar nicht mehr, denn inmitten meiner Qualen und Fieberfantasien glaubte ich, dass einem Häretiker wie mir der Scheiterhaufen gewiss war. Das wisst Ihr doch, Bruder Ranulf, nicht wahr? Überführte Ketzer werden verbrannt. Wer seine Untaten gesteht — so wie ich es tat -, dem wird wenigstens die Gnade gewährt, nicht lebenden Leibes verbrannt zu werden.«
Ich nickte, denn davon hatte ich gehört. »Geständige Katharer wurden erwürgt, bevor man ihre Körper den Flammen übergab. Wer jedoch bis zum Ende verstockt blieb, der musste ohne diese Gnade auf den Scheiterhaufen.«
Nicolas Garmel nickte. »So wünschte ich denn in jenen drei Tagen, ER möge mich gleich in SEIN Reich holen, auf dass mir das Würgeisen und der Scheiterhaufen erspart blieben.
Meister Philippe kam zu mir in meine Zelle und sprach gütig mit mir. Er fragte mich, ob ich alle meine Sünden bereute und fortan als getreuer Sohn der Mutter Kirche leben wollte. Gehorsam bejahte ich. Da sagte er mir, dass die Inquisition Männer wie mich benötige, denn ich sei ein des Heilens kundiger Mann, kundig auch in allen anderen Dingen des menschlichen Körpers. Als reuiger Sünder hätte ich in die Hölle geblickt — und würde mich fortan viel gewissenhafter auf dem allein selig machenden schmalen Pfad der Tugend halten als ein gewöhnlicher Christenmensch, der nie dem Reiz der Häresie und der Qual der Folter ausgesetzt worden war.«
Der Bader nickte und lächelte schmerzlich. »Die Gnade, die mir Meister Philippe gewährte, war so groß, dass ich halb ohnmächtig zu Boden sank und seine Hand küsste. Mir, der ich den sicheren Tod vor Augen glaubte, öffnete sich unversehens wieder eine Tür zum Leben! Zu einem Leben als Diener der Kirche, zu einem GOTT gefälligen Leben, in dem mir Zeit gegeben wurde, alle meine früheren Sünden durch fromme Werke wieder auszugleichen.
So diente ich denn fortan der Inquisition. Als Meister Philippe aus dem Süden fortging und nach Paris kam, da nahm er mich mit. Hier bin ich zum angesehenen Bader geworden, hier habe ich das Bürgerrecht erworben. Kein Nachbar weiß, welche Torheiten ich einst begangen habe.
Wann immer Meister Philippe meiner Dienste bedarf, kann er sich auf mich verlassen. Ich untersuche die Toten, deren Schicksal die Inquisition interessiert. Ich sehe Besessene an. Wenn ein Inquisitor vermutet, dass sich in der Tracht eines Christenmenschen ein Jude versteckt, dann holt er mich, auf dass ich begutachte, ob der Verdächtige beschnitten ist oder nicht. Wann immer Meister Philippe dies befiehlt, stehe ich den Folterknechten bei, auf dass ein Verdächtiger nicht vorzeitig ins Jenseits entflieht. Dies, ich gestehe es, tue ich mit unruhigem Gewissen, denn meine Heilkunst dient ja in solchen Fällen nur dazu, die Qual eines Gefangenen zu verlängern. Doch dann sage ich mir stets, dass dieser Sünder es verdient hat zu leiden - und dass für mich, den größten Sünder unter allen, die Folter der Weg war zurück zu einem rechtschaffenen Leben.«