»In diesem Fall hätte deine Kunst den Gefangenen jedoch nicht gerettet«, erwiderte ich. »Denn selbst wenn du Pierre de Grande-Rue für heute am Leben gehalten hättest: Seine Sünden waren dergestalt, dass er auf jeden Fall hingerichtet worden wäre. Wer drei Menschen den Tod bringt, der verdient selbst nichts anderes als den Tod.«
»Aber was ist, wenn Pierre de Grande-Rue diese Untaten nicht begangen hat?«, fragte der Bader. Seine Stimme war zu einem Hauch geworden.
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Entsetzt starrte ich ihn an. »Was redet Ihr da, Herr Garmel? Der Vagant hat alles zugegeben!« Nun zitterte der Bader wieder am ganzen Leib. »Ja, das stimmt«, antwortete er. »Und Meister Philippe, das weiß ich sehr wohl, ist erleichtert, in ihm den Mörder gefunden zu haben. So kann er es dem Prévôt royal und dem Bischof melden, denn lange hat er ja vergebens nach dem Sünder gesucht.
Meister Philippe hat mir immer große Gnade erwiesen, sodass ich ihn nicht enttäuschen mag. Und doch: Es quält mein Gewissen, sodass ich es wenigstens Euch, einem Mann GOTTES, anvertrauen muss. Doch schwört, dass Ihr es niemals dem Inquisitor verraten werdet!« Mir schauderte. Doch dann versprach ich dem Bader, sein Geheimnis niemandem zu enthüllen.
Ich habe mein Wort gehalten bis zu diesem Tag, da ich dies niederschreibe und alle Menschen, die jene Geschichte betrifft, längst in SEIN Reich eingegangen sind.
»Erinnert Ihr Euch der Wunden, die Heinrich von Lübeck und die Schönfrau Jacquette gezeichnet hatten?«, fragte mich der Bader. Mit Schrecken dachte ich daran zurück und nickte. »Es waren klaffende Wunden auf der Brust. Messerstiche, so sagtet Ihr.«
Nicolas Garmel nickte. »Ja, Bruder Ranulf, Messerstiche. Doch beide Wunden waren auf der rechten Seite der Brust.« Und plötzlich verstand ich.
Mir war, als würde sich der Boden unter mir auftun und mich in den feurigen Schlund der Hölle zerren. Mir war, als könnte ich nicht mehr atmen. Mir war, als würde sich Pierre de Grande-Rue von der Streckbank erheben und mit zermartertem Finger anklagend auf mich weisen.
»Ja«, flüsterte der Bader heiser, als er meines Entsetzens gewahr wurde, »das ist es, was mein Gewissen quält: In beiden Fällen — und auch bei Nicolas d'Orgemont, dessen Leiche Ihr nicht sähet, die ich jedoch ebenfalls untersuchte — klaffte die Wunde auf der rechten Brustseite.
Wenn man nun annimmt, dass der Mörder jener Unglücklichen vor ihnen gestanden hatte, dann deutet dies darauf hin, dass der Messerstoß mit der linken Hand geführt worden ist. Der Unhold, den die Inquisition sucht, muss ein Linkshänder sein.«
Ich sah jene Szene im Schlachthof wieder vor meinem geistigen Auge, da Pierre de Grande-Rue das Messer nach mir warf und ich glaubte, dass ich im nächsten Moment sterben würde. »Der Vagant jedoch war Rechtshänder«, murmelte ich.
*
Lange saßen wir danach schweigend vor der Streckbank und blickten auf den Leichnam von Pierre de Grande-Rue. Je länger ich grübelte, desto größer wurde meine Überzeugung, dass dessen erstes Geständnis der Wahrheit entsprach - nicht das, was er uns nach der Folter gesagt hatte.
Schließlich musste ich mir selbst gegenüber zugeben, dass der Vagant uns nicht belogen hatte: Jener Mann, dessen Qualen ich als Zeuge hatte mitansehen müssen, mochte ein Sünder gewesen sein. Wohl auch hatte er versucht, die Leiche des Heinrich von Lübeck auszurauben. Außerdem hatte er den gestohlenen Kodex in der Hütte beim Temple versteckt. Doch getötet hatte er den Mönch nicht. Und auch nicht Jacquette oder den Domherrn.
Heiße Scham stieg in mir auf, da ich mich meiner Rachsucht erinnerte, als der Vagant leiden musste. Er wurde, wie Jesus am Kreuz, gequält, ohne schuldig zu sein. Und ich, ich war kaum besser als jener Schreiber, der wohl einst dem Hohepriester Kaiphas das Protokoll geführt hatte, da er unseren Heiland bezichtigte. Zur Scham kam die Angst: Denn wenn Pierre de Grande-Rue nicht der Mörder war — wer war es dann? Wie sollte ich ihn jetzt noch finden können? Jetzt, da Meister Philippe den Fall für gelöst erklärt hatte? Jetzt, da selbst der Bischof von Paris den Vaganten in einer Messe in Notre-Dame vor allem Volk zum Schuldigen erklären würde? Niemand würde mehr nach dem wahren Täter fahnden. Der Bader mochte meine Gedanken erraten haben. Denn plötzlich fragte er mich: »Werdet Ihr weitersuchen, Bruder Ranulf?« Ich blickte ihn an, dann nickte ich langsam. »Ja, Herr Garmel, ja, das werde ich.«
»GOTT segne Euch, Bruder Ranulf«, murmelte er. »Euch auch, Herr Garmel«, antwortete ich. Dann beteten wir gemeinsam an der Streckbank, auf der Pierre de Grande-Rue sein Leben ausgehaucht hatte.
Als wir danach zurück ans Tageslicht stiegen, nahm ich den Bader im Klostergarten beiseite. »Kein Wort darüber zu irgendjemanden!«, flüsterte ich ihm zu.
Da lächelte Nicolas Garmel bitter. »Bruder Ranulf«, sagte er, »dieses Versprechen kann ich Euch nicht geben. Ich werde schweigen, doch lag ich schon einmal auf der Streckbank. Sollte Meister Philippe mich befragen, so werde ich ihm keine Lüge erzählen, denn ein zweites Mal will ich nicht den Folterknechten in die Hände fallen. Ich kann Euch nur zusagen, dass ich nicht ungefragt dieses Geheimnis ausplaudern werde.«
»Das ist immerhin etwas. Ich danke Euch, Herr Garmel, und GOTTES Segen sei mit Euch.« Mit diesen Worten wandte ich mich um und strebte dem Kloster in der Rue Saint-Jacques zu, verwirrt an Geist und Seele.
*
Auf dem Weg zurück achtete ich nicht der Menschen auf den Straßen. Und so, als spürten sie, dass ich etwas in mir trug, das Schrecken verursachte, so, als hätte mich die Folter, deren Zeuge ich an diesem Tag geworden war, mit einem unguten Miasma umgeben, so machten mir alle eilig Platz.
Ich grübelte unentwegt über das, was ich gesehen und vernommen hatte, doch meine Gedanken glichen Raben, die in wilden Bögen um einen Toten kreisten, nicht dem geraden Flug der Zugvögel, die ein festes Ziel vor Augen haben — und es auch erreichen. Welche Spur mochte mich jetzt noch zu dem Linkshänder führen, den außer mir niemand mehr suchte? Mochte das Geld, das Heinrich von Lübeck bei sich getragen und das der Vagant nicht gefunden hatte, der Grund für sein schreckliches Ende gewesen sein? War es vielleicht doch mehr als ein Zufall, der das Schicksal des Mönches mit dem von Jacquette und dem des Domherrn verwoben hatte? Doch welche Verbindung mochte es, außer der unaussprechlichen Sünde, zwischen einem Dominikaner und einer Schönfrau gegeben haben?
So sehr ich alle Fragen in meinem Geiste auch drehte und wendete, stets kam ich zu einer einzigen zurück: Was bedeutete terra perioecp. Zum zweiten Mal hatte ich an diesem Tag jenen geheimnisvollen Namen gelesen. Doch was verbarg sich hinter diesem Land? Warum mochte Heinrich von Lübeck jene zwei Worte in seinem Todeskampf niedergeschrieben haben?
Ich blieb mitten auf der Straße stehen, als hätte mich der Schlag getroffen. Denn plötzlich musste ich mir eingestehen, was ich schon lange geahnt, jedoch nicht bis ins Innerste meiner Seele gelassen hatte: Meister Philippe verschwieg mir etwas, er wusste mehr darüber, als er mir gesagt hatte.
Der Inquisitor hatte doch ohne Zweifel auch den rätselhaften Namen auf der Landkarte gelesen. Er wusste doch, dass er jenes Buch in Händen hielt, mit dem unser unglückseliger Mitbruder in jener Nacht durch die Straßen von Paris geeilt war, in der sich sein Schicksal erfüllte. Hätte Meister Philippe da nicht überrascht sein müssen? Verwirrt, so wie ich es war? Hätte er nicht sofort jenes Werk, dessen Verfasser ich nicht kannte, aufblättern und auf der Stelle nach neuen Spuren durchsuchen müssen?
Nein, er hatte es rasch zugeschlagen und eingesteckt - so, als wüsste er bereits, was dessen Inhalt war. Wenn der Inquisitor das jedoch wusste, was mochte dies bedeuten? Kannte er den wahren Grund für die letzte Botschaft des sterbenden Mitbruders? Fürchtete er sich, mir dessen Geheimnis anzuvertrauen? Oder misstraute er mir, weil er mehr von meinen heimlichen Wegen wusste, als mir lieb sein konnte? Würde er sich gar, ich erschauderte, nun, da er einen Sünder überführt glaubte, einem anderen zuwenden: mir?