Zweifel, Fragen und Furcht trieben mich um und verwirrten meinen Geist. So sehr war ich mit ihnen beschäftigt, dass ich Klaras Dienerin nicht bemerkte, obwohl sie in der Rue Saint-Jacques vor dem Kloster auf mich wartete. So sehr war ich in meinen Gedanken gefangen, dass ich erschrocken zusammenzuckte, als sie plötzlich an meine Seite trat und sich demütig vor mir verneigte.
Schweigend steckte sie mir einen Pergamentbogen zu, der so oft gefaltet war, dass er in ihre Handfläche passte. Auch ich verlor kein Wort, als sie ihn mir überreichte und sich dann von mir abwandte und eilig die Straße hinunterstrebte, Richtung Seine. Mein Herz schlug mir im Halse. Eben noch verwirrten mich die Fragen um den Tod des Heinrich von Lübeck. Nun wusste ich, dass mir Klara Helmstede einen Brief hatte zukommen lassen — und das Bild meiner Geliebten verdrängte alle meine Sorgen aus meinem Geist. Rasch ging ich ins Kloster und erkundigte mich beim Portarius, ob Meister Philippe schon gekommen wäre. Als der verneinte, nickte ich und zog mich erleichtert in meine Zelle zurück. Dort entfaltete ich den Brief und las:
Geliebter!
Ich habe nur wenige Augenblicke Zeit, um dir diese Zeilen zu schreiben. Die »Kreuz der Trave« wird in vier Wochen Paris verlassen. Es ist ein Geheimnis, das nicht einmal der Steuermann kennt. Mein Mann wollte es auch vor mir verschweigen, doch verriet er sich in einem unbedachten Moment.
Ich weiß nicht, ob er auf eigene Faust lossegeln will oder ob ihm jemand einen Auftrag gegeben hat. Wir haben keine Fracht geladen, nur viele Vorräte. Ich vermute trotzdem, dass es jemanden gibt, der meinem Gatten Befehle geben kann. Nie hätte ich so etwas gedacht! Und doch: Mein Mann scheint jemandem zu gehorchen, ja, er scheint ihn zu fürchten.
Ich vermag weder zu sagen, wer dieser Geheimnisvolle sein könnte, noch weiß ich, wohin unsere Kogge segeln soll. Ich kenne nicht das Ziel der Reise und nicht ihre Dauer. Sicher ist nur dies: Wir laden Vorräte ein, Tag um Tag. So weiß jeder Matrose an Bord, so weiß jeder Diener im Haus, dass es bald losgehen soll. Nur, wie gesagt, niemand weiß wann genau und wohin.
Geliebter - verzeihe mir, dass ich deinen Namen nicht niederschreibe, doch sollte dieser Brief jemals in falsche Hände gelangen, dann wird er nur mich der Schande anheimgeben, nicht dich — ich sehne mich nach dir! Doch meine Sehnsucht muss ich bezähmen. Und auch du musst dich noch ein wenig in Geduld üben. In acht Tagen werden wir Gäste des Bischofs von Paris sein. Der hohe Herr hat meinen Gatten und mich in seinen Palast eingeladen. Ich weiß nicht, warum, doch mein Mann ist seither noch nervöser als zuvor.
Wir kleiden uns neu ein. Täglich ist eine Schneiderin da, die mir Maß nimmt oder mir Stoffe präsentiert. Es kann meinem Gatten nicht kostbar genug sein, ich werde aussehen wie eine Fürstin! Dann bringen uns Goldschmiede feinstes Geschmeide vorbei, manches für mich, das meiste jedoch als Geschenk für den hohen Herrn, dessen Gäste wir die Ehre haben zu sein.
So bin ich keine Stunde allein, nie bin ich unbeobachtet. In neun Tagen erst, wenn wir aus dem bischöflichen Palais zurückgekehrt sein werden und Ruhe wieder einkehrt in unser Haus, wird unsere Stunde kommen!
Bis dahin muss ich mich damit begnügen, dein Bild in meiner Seele zu tragen und die Stunden zu zählen, die mich noch von dir trennen. Da ich deine Neugier kenne — und ich selbst natürlich neugierig bin—, werde ich versuchen, mehr herauszufinden über das Ziel der »Kreuz der Trave«, ohne dabei den Verdacht meines Gatten zu erregen. Mag sein, dass ich dir in neun Tagen ein neues Geheimnis ins Ohr flüstern kann.
Meine Dienerin Magdalena, die dir diesen Brief überbringt, wird dann zur Mittagszeit vor dem Kloster auf dich warten und dich zu mir führen. Gedulde dich also noch eine kleine Weile!
Klara
Neun Tage! Wie lang würde mir diese Zeit werden! Denn nicht länger war es die Wollust allein, die mich verzehrte, sondern nun auch die brennende Ungeduld, wieder nach dem Mörder des Mönches zu suchen.
Meister Philippe würde keine weiteren Nachforschungen betreiben, das glaubte ich nun sicher zu wissen. Wahrscheinlich würde er mit mir nicht einmal über das Buch sprechen, das der Vagant Heinrich von Lübeck geraubt hatte, und auch nicht über das geheimnisvolle Land terra perioeci, wenn ich auch nicht wusste, warum er diese Dinge mir gegenüber verschwieg. Ich war auf mich allein gestellt.
Doch nicht ganz: Zwei Helferinnen hatte ich, die gleich mir nur heimlich auf die Suche gehen konnten. Lea durchforschte noch immer die Bibliothek ihres Vaters nach Hinweisen auf die terra perioeci. Nun, da ich mit eigenen Augen, wenn auch nur schmerzlich kurz, diesen Namen in einem weiteren Werk gelesen hatte, war ich noch sicherer als zuvor, dass irgendwo in einem anderen Buch ein weiterer Hinweis auf dieses Land zu finden sein müsse.
Und Klara? Sie würde, geschickt wie sie war, nach dem Geheimnisvollen Ausschau halten, der ihrem Gatten Befehle geben konnte, und sie würde versuchen, das Ziel der Kogge zu ergründen. Die »Kreuz der Trave« würde bald ablegen. Es sollte eine lange Reise werden. Konnte das alles ein Zufall sein?
Ruhelos warf ich mich auf meiner harten Pritsche hin und her. Ich hatte keinen Beweis, ja nicht einmal einen vagen Hinweis, und doch: Konnte es möglich sein, dass das Ziel der Kogge jenes mir unbekannte Land war, das terra perioeci hieß?
14
DER SCHATTEN VON PARIS
Es kam so, wie ich es befürchtet hatte. Magister Jean Courtecuisse, der Bischof von Paris, zelebrierte am folgenden Sonntag eine Messe in Notre-Dame. Alle Mönche aus dem Kloster waren anwesend und meine Mitbrüder versicherten mir, dass sie nie zuvor eine derart große Zahl von Gläubigen in der Kathedrale gesehen hätten wie an jenem Tag, nicht einmal, als der König von Frankreich das letzte Mal Paris mit seiner Gegenwart beehrt hatte. Zwar erinnerte ich mich der wenig schmeichelhaften Worte, welche Meister Philippe über die Gelehrsamkeit des Bischofs geäußert hatte, doch muss ich zugeben, dass er an jenem Morgen sehr gut und sehr verständig sprach.
Schon im Morgengrauen, direkt nach der Prim, waren wir vom Kloster zur Kathedrale geeilt — und hätten doch keine Plätze mehr bekommen, wären nicht zwei Reihen den Dominikanern von Saint-Jacques vorbehalten gewesen. Das Volk stand in dichtem Gedränge wohl an die hundert Schritt weit draußen auf dem Platz. Im riesigen Kirchenschiff wogten Geistliche und Adelige, Kaufleute und Gelehrte der Universität, Handwerker und Bettler zwischen den mächtigen Pfeilern wie ein Meer aus guten Christenmenschen hin und her. Es war ein heißer Tag und stickig war die Luft in Notre-Dame, sodass schon lange vor der Messe wohl gar mancher die Besinnung verlor. Doch als Magister Jean Courtecuisse endlich auf der Kanzel erschien, da donnerte seine tiefe Stimme über die unzähligen Köpfe seiner Herde hinweg. In höchsten Tönen lobte der Bischof die GOTT gefälligen Taten der Inquisition und insbesondere die meines Meisters. Dann schilderte er noch einmal in allen grausigen Einzelheiten — Philippe de Touloubre hatte sie ihm ohne Zweifel eingehend beschreiben müssen — die Mordtaten an Heinrich von Lübeck und am Domherrn Nicolas d'Orgemont. Viele Gerüchte waren darob schon in Umlauf gewesen, doch hörten es die Menschen nun aus berufenem Mund und viele vernahmen die Geschichten der Morde gar zum ersten Mal. Der Bischof deutete diese unerhörten Sünden als die Taten, welche GOTTES Zorn auf Paris, ja auf ganz Frankreich gelenkt hatten. So erfuhren die Christen von ihrem Oberhirten die Gründe für die schreckliche Heimsuchung, vor der sie sich seit Wochen ängstigten. Nur Jacquettes Tod erwähnte er mit keinem Wort. Sodann malte Magister Jean Courtecuisse den Gläubigen die Folter aus, die Pierre de Grande-Rue erdulden musste, bevor ER ihn vor SEINEN Richterstuhl befohlen hatte. Der Bischof schloss seine Predigt mit einem Bild der Höllenqualen, welche den Vaganten nun für alle Ewigkeiten heimsuchen würden — und den Segnungen, welche die guten Bürger von Paris hingegen davon erwarten durften, dass die Inquisition den Unhold gefasst hatte, dem zwei Männer GOTTES erlegen waren.