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Selbst ich, der ich doch die schrecklichen Einzelheiten jener Sünden besser als fast jeder andere Zuhörer in Notre-Dame kannte, schauderte, als der Bischof in klaren, wohlgesetzten Worten die Morde und die Folter schilderte. Erleichtert seufzte auch ich auf, da er uns nun verhieß, dass für uns Christen in Paris der Zorn GOTTES noch einmal im letzten Augenblick abgewendet worden sei. Doch zugleich erfüllte mich auch Trauer. Eine Trauer um Jacquette, deren Schicksal niemandem auch nur ein Wort wert war; Trauer auch um den Vaganten, der ohne Zweifel ein Sünder gewesen war, der es jedoch nicht verdiente, dass sein Ansehen derart geschwärzt wurde wie in dieser Predigt; und, wenn auch keine Trauer, so doch Mitleid mit mir selbst, dass ich nicht in der Kathedrale aufstehen konnte, um der Christenheit mit lauter Stimme zuzurufen, dass der Mörder, vor dem sich alle fürchteten, noch immer frei unter uns herumlaufen musste, ja, dass er vielleicht gerade in jenem Augenblick, da der Bischof predigte, unter den Zuhörern in der Kathedrale zu finden war. Oh, hätte ich doch geahnt, wie Recht ich in meiner Verzweiflung gehabt hatte!

So aber schwieg ich betrübt - und mied den Blick von Meister Philippe.

Auch diese Furcht war wohl begründet: Der Inquisitor sprach an jenem und auch an keinem anderen Tag mehr mit mir über das geografische Werk des Castorius, das er aus dem Versteck des Vaganten geborgen hatte. Genauso verlor er kein weiteres Wort über die terra perioeci - es war, als hätte es dieses geheimnisvolle Land niemals gegeben, als hätte ich jene beiden Begriffe nicht selbst mit eigenen Augen gelesen.

Mit jeder Stunde, die verging, war ich mir sicherer, dass er mir etwas verschwieg. Doch was mochte er verbergen? Und warum? Die Tage nach der Predigt des Bischofs waren erfüllt von Lobgesang und Preis GOTTES. Allenthalben, in allen Kirchen und Klöstern von Paris, wurden Messen gelesen und Prozessionen gesegnet. Es war - man konnte es fast körperlich spüren - als wäre jedem Bürger der Stadt eine Last, schwer wie eine Fuhre Steine, von den Schultern genommen. Freier gingen Männer und Frauen durch die Straßen, elastischer war ihr Schritt. Die Mägde sangen wieder fröhliche Lieder, die Burschen schauten ihnen hinterher und wagten auch manch unzüchtiges Wort, die Kinder lachten und pfiffen. Alle waren froh, dass der Unhold gefunden und damit der Zorn GOTTES abgewendet worden war. Zumal jetzt so gut wie keine neuen Flüchtlinge mehr in die Stadt kamen. Die Seuche, so flüsterte man an jeder Ecke, zog wieder ab, jeden Tag wohl ein paar Hundert Schritt weiter weg von den Mauern.

Doch die Fröhlichkeit der Menschen war eine Spur zu laut, ihr Lobpreis GOTTES klang zu dankbar, ihre Erleichterung über die Aufdeckung der Untat und die Strafe des Sünders erschien mir zu groß. So ließ uns der Prior Messen lesen; Bruder Carbonnet schickte zudem seine begabtesten Prediger aus, auf dass sie an allen Ecken der Stadt zu den Menschen sprachen. Denn wir spürten wohl, dass die Freude dünn war wie ein Firnis auf einem Gemälde — und dass darunter noch immer eine tiefe, namenlose, dunkle Furcht lauerte. Wohl kann ich behaupten, dass niemals zuvor so viele Christen uns Dominikanern lauschten wie in jenen Tagen.

Einzig, dass ich das Kloster nicht zu verlassen wagte, schmerzte mich. Denn mit Messen und Predigten gab es so viel zu tun, dass ich mich nicht unauffällig zur Bibliothek im Kollegium de Sorbon hätte stehlen können. Außerdem war es undenkbar, dass ich gegen den Willen Klaras zu ihr geschlichen wäre oder der Jüdin Lea bas Nechenja einen Besuch abgestattet hätte.

Selbst als nach wenigen Tagen die Erregung der Bürger abflaute und wir nicht mehr zu jeder Stunde Messen lesen mussten, wagte ich mich nicht hervor. Ich fürchtete mich vor Meister Philippe. Denn wenn er mir etwas verschwieg, dann mochte er mir misstrauen. Und wenn er mir misstraute, dann mochte er meinen geheimen Wegen auf die Schliche kommen.

Ich hoffte nur, dass am verabredeten Tag - dem Tag der heiligen Margareta — mein demütiges und gehorsames Verhalten seine Aufmerksamkeit etwas eingeschläfert hatte, sodass ich die Dienerin und über sie endlich meine Geliebte würde wiedersehen können. Doch als schon fast die Stunde gekommen war, da ich hoffen durfte, Klara wieder in den Armen zu halten, wurde ich Zeuge von einem Ereignis, das meine Seele erzittern ließ.

*

In jener Nacht vor dem Tag der heiligen Margareta entlud sich über Paris ein schreckliches Gewitter. Der HERR schickte eine Flut hernieder, wie er sie wohl auch an jenem Tag gesandt hatte, da Noah seine Arche besteigen musste. Donnerschläge hallten durch die Stadt, sodass die Mauern der mächtigsten Bauwerke erzitterten, und Blitze aus gleißendem Höllenlicht zuckten am Himmel.

Schlaflos lag ich auf meiner Pritsche. Doch nicht allein das schreckliche Unwetter gab meinem Geist keine Ruhe, auch ein wirrer Gedankenreigen ließ mich nicht eintauchen ins süße Meer des Vergessens und der Träume. Ich dachte an Klara und sehnte unsere nächste Begegnung herbei. Zugleich jedoch quälten mich Bilder des gefolterten Vaganten, Bilder von Jacquette, die mit klaffender Wunde auf dem Boden lag, Bilder von Lea, die mich anflehte, ihren Vater zu retten, Bilder von einigen schwarzen, blauen und roten Strichen auf altem Pergament, die einen Namen umschlossen:

terra perioeci. Irgendwann, es war wohl schon weit nach Mitternacht, doch das Unwetter tobte noch immer heftig über der Stadt, vermeinte ich, wieder Geräusche im Kloster zu hören, die nicht vom Regen oder vom Donner herzurühren schienen.

Konnte ich es wagen, meine Zelle zu verlassen, oder würde draußen ein Schatten auf mich lauern? Lohnte sich das Risiko einer Entdeckung noch? Denn was hätte ich schon davon, klärte ich die Geheimnisse jener unheimlichen Treffen auf?

Andererseits, so dachte ich mir, hatte ich, seit ich in Paris weilte, noch keine Sache wahrhaft zu Ende geführt. Nichts wusste ich, keine Frage hatte ich beantwortet, keine Spur bis zu deren Ende verfolgt. Wenigstens dieses Rätsel wollte ich nun klären, wenn ich auch nicht hoffte, darüber jemals mit einem anderen Menschen sprechen zu können. So erhob ich mich denn, schlich zur Tür und warf mich dort zu Boden. Ich wartete eine gute Weile hingekauert auf dem kalten Stein, bis ein besonders heftiger Doppelschlag von Blitz und Donner das Kloster bis in die Grundfesten erzittern ließ. Sofort drückte ich die Tür auf und kroch hinaus.

Ich hoffte, dass die tobenden Elemente das leise Scheuern meiner Kutte auf dem Boden und das Knarzen der Zellentür verschluckten und dass ich in meiner Haltung nicht mehr als ein Schatten war, den selbst ein aufmerksamer Wächter übersah.

Rasch blickte ich mich um: Niemand war an beiden Enden des Ganges zu erkennen, doch konnte ich nicht sicher sein, ob sich nicht doch jemand irgendwo verbarg. Also richtete ich mich nicht auf, sondern schob mich, Brust und Bauch am kühlen Boden, Handbreit um Handbreit voran.

So gelangte ich schließlich bis zum Kreuzgang. Ich zitterte am ganzen Leib, denn die Kühle des Bodens war mir inzwischen bis in die Knochen gedrungen. Doch noch immer wagte ich nicht, mich zu erheben. So kroch ich denn weiter, der Schlange, dem Tier der Falschheit, ähnlicher als einem Menschen, bis ich in der Mitte des vom Kreuzgang allseits umschlossenen Gartens angekommen war, wo ich mich hinter der Mauer des Springbrunnens verbarg.