So fasste ich mir denn ein Herz, als ich einen älteren Bauern erblickte, der einen Handkarren zog, welcher bis oben hin mit Äpfeln beladen war. Plötzlich nämlich stürzte ich los, stieß den Bauern beiseite, kippte den Karren auf das Straßenpflaster und bog in eine kleine Seitengasse ein, die schon halb im Dunkeln lag.
Hinter mir hörte ich den Bauern fluchen, ein paar Weiber kreischten, Kinder und Burschen lachten und riefen Spottworte. Ich vernahm noch Lärm und dumpfe Schläge, dann war ich schon am Ende der Gasse. Ich kam auf eine große Straße und wandte mich nach links. Ich hoffte, dass der Schattenmann im Durcheinander aufgehalten worden sei, doch wagte ich nicht, Zeit zu verlieren, indem ich mich umdrehte.
Ohne auf die erstaunten Gesichter der Leute und ihre Rufe zu achten, eilte ich die Straße hinunter, so schnell mich meine Füße trugen. Es kam mir zupass, dass ich zu Fuß von Köln nach Paris gewandert war und seither mit Meister Philippe gar manchen weiten Weg durch diese Stadt zurückgelegt hatte. So waren meine Beine kräftig und mein Herz war stark. Ich rannte wohl fast so schnell wie ein Treiber bei den Jagden der adeligen Herren.
Erst nach über einhundert Schritt wagte ich es, den Kopf zu wenden. Mir stockte der Atem: Ich sah den Unbekannten, den ich schon abgehängt glaubte, in der Straße. Er war zurückgefallen - doch ohne Zweifel hatte er mich noch im Blick.
Ich verdoppelte meine Anstrengung und hastete weiter. Plötzlich öffnete sich die Straße vor mir - und ich fand mich auf der Place de Greve wieder. Ich schlängelte mich an Lastenträgern und Seeleuten vorbei, duckte mich hinter Weinfässer und hoch aufgeschichtete Stoffballen, auf dass mein Verfolger mich aus den Augen verlöre. Dann stürzte ich zum Grand Pont und hastete zur Seine-Insel. Wieder blickte ich mich um und wieder sah ich ihn, doch mittlerweile noch weiter entfernt.
Mit letzter Kraft rannte ich auf Notre-Dame zu. Mein Herz hämmerte mir in der Brust, mein Atem schmerzte mit jedem Zug, ich schmeckte bereits Blut in meinem Mund. Ich wollte durch das Hauptportal in die Kathedrale stürzen, da ich mich dort in Sicherheit wähnte, doch im letzten Augenblick hatte ich eine rettende Eingebung: Ich bog ab und eilte stattdessen an der linken Seite des Hauses GOTTES entlang.
»HERR, beschütze mich!«, flehte ich im Geiste, denn für Worte hatte ich keinen Atem mehr.
Und GOTT erbarmte sich meiner.
Ich tauchte ein in das Gewirr der steinernen Streben und Pfeiler, der kühnen Bögen und verwinkelten Vorsprünge, in jenes granitene Labyrinth, welches die Kapellen wie eine Dornenkrone umschließt. Ich betrat das düstere Reich der Schönfrauen und ihrer Liebhaber, der Taschendiebe und Bettler - und jeder Sünder dort, der meine Kutte sah, schreckte zurück, verkroch sich tiefer in das steinerne Dickicht, war Schatten unter Schatten. Das mochte meinen Verfolger, so hoffte ich, bereits gehörig verwirren.
Dann plötzlich sprang ich nach rechts und stürzte mich durch eine Pforte ins Innere der Kathedrale. Es war, wie ich im letzten Augenblick mit einem Schaudern sah, jene Porte Rouge, über der Maria als Himmelskönigin thronte — und vor der Heinrich von Lübeck erstochen worden war.
Im Innern sah ich mich um. Durch die Rosetten strömte gelbes, rotes und blaues Licht in das Schiff von Notre-Dame. Doch die Sonne stand schon so tief, dass manche Fenster kaum noch beschienen wurden. Zwar waren, wie immer, unzählige Kerzen vor den Altären entzündet worden, doch auch ihr flackernder Schein drang längst nicht überall hin.
Andererseits waren noch immer Hunderte Gläubige hier und beteten oder wanderten langsam und gedankenschwer durch das riesige Haus GOTTES. Sie glichen verlorenen Seelen, die lautlos durch das Reich der Toten schwebten.
Ich bezähmte meine Unruhe, senkte demütig den Kopf und ging nun gemessenen Schrittes weiter, bis ich eine Seitenkapelle erreicht hatte, die bereits im Dunkeln lag. Hier verbarg ich mich hinter dem geöffneten Flügel eines Altarbildes.
Irgendwann gewahrte ich den Schattenmann. Er war durch das Hauptportal eingetreten. Ich durfte wieder hoffen, denn war dies nicht ein Indiz dafür, dass er meinen Weg nicht mehr hatte verfolgen können? Dass er sich nicht einmal sicher war, mich in der Kathedrale zu finden? Ich sah an seinem zögernden Schritt und an der Art, wie er den Kopf mal nach links, mal nach rechts wandte — jedoch stets so, dass ich nie sein Gesicht erkennen konnte —, dass mein unbekannter Verfolger ratlos war.
So streifte er durch die Kathedrale wie ein unruhiger Wolf, der wieder Witterung aufnehmen wollte. Andererseits konnte er nicht sicher sein, dass ich mich überhaupt in Notre-Dame verborgen hielt. Er musste damit rechnen, dass ich, während er durch die Kathedrale schlich, längst woanders war und mich mit jedem Augenblick weiter von ihm entfernte.
Ich sah, wie er immer unruhiger wurde, wie er sich immer häufiger nach dem Hauptportal umwandte - als bedauerte er, überhaupt das Haus GOTTES betreten zu haben.
Schließlich hielt es der Unbekannte offensichtlich nicht länger aus, denn plötzlich drehte er sich um und eilte hinaus. Ich atmete auf. Doch hielt ich es für klüger, mich noch länger verborgen zu halten. Erst als die Sonne zum Abend hin rot erglänzte, wagte ich mich durch die Porte Rouge wieder aus Notre-Dame hinaus. Vorsichtig blickte ich mich um: Viele Gestalten sah ich wohl zwischen den Pfeilern und ahnte auch ihr sündhaftes Tun, doch niemand schien mir darunter zu sein, der meinem Verfolger ähnelte. So ging ich denn entlang enger Gassen einen großen Bogen durch die Stadt. Erst nach vielerlei Umwegen durch Paris gelangte ich wieder zu meinem Kloster - und zwar von der stadtauswärts führenden Seite der Rue Saint-Jacques her. Sollte mein Verfolger vorgehabt haben, mich vor dem Kloster abzufangen, dann, so hoffte ich, würde er sich zwischen diesem und der Seine versteckt gehalten haben, denn dies war ja der direkte Weg von Notre-Dame bis dorthin. Doch wie dem auch war, ich gelangte unbehelligt bis zur Pforte, wo mich der Portarius einließ. Der ältere Mitbruder bedachte mich zwar mit einem missbilligenden Blick, doch schwieg er. Ich wiederum wagte nicht, ihn nach einem Unbekannten mit einem grauschwarzen Mantel zu fragen, denn ich wollte nicht noch mehr Misstrauen erregen. Sollte er nämlich Meldung machen beim Prior, dann mochte mir der Ehrwürdige Vater wohl mein freies Kommen und Gehen untersagen.
Ich jedoch wollte das Kloster schon am nächsten Tag wieder verlassen.
15
DIE VERLORENEN BÜCHER
Der Juli wich dem August. So wie der alte brachte auch der neue Monat Hitze, lähmende Feuchtigkeit und Gewitter von einer Heftigkeit, wie sie wohl kaum je ein Mensch in dieser Stadt gesehen hatte. Ich verbrachte meine Tage endlich auf die Art und Weise, wie ich mir meine Zeit in Paris immer vorgestellt hatte: im Studium.
Dennoch war alles anders, als ich es mir erhofft hatte. War das Kloster in der Rue Saint-Jacques nicht einst Heimstatt des Albertus Magnus gewesen? Hatte er hier nicht den heiligen Thomas von Aquin unterrichtet, der zum größten Gelehrten von allen heranreifte? Ich zweifelte, ob ich dieser Meister würdig war. Denn statt stolz erhobenen Hauptes in die Bibliothek zu schreiten und heilige Schriften zu studieren, schlich ich mich am Portarius vorbei, ohne ihm mein Ziel zu nennen. Nicht die Bibel las ich oder die Werke der Kirchenväter, um die Ewige Welt zu ergründen, sondern Bücher über die Geografie dieser unserer vergänglichen Welt — und manches obskure Werk eines heidnischen Autoren dazu, das eines Mönches wohl kaum würdig war.