Nur, wen kümmerte dies noch? Es war, als würde die Welt, in der ich lebte, vor meinen Augen zerfallen. Die strenge Disziplin des Klosters war dahin. Den ehrwürdigen Prior sah ich kaum noch. Die Mitbrüder flüsterten, er liege stundenlang in seiner Zelle und starre geistesverloren zur Decke und niemand wage es, ihn anzusprechen.
Meister Philippe mied ich, wo immer ich konnte. Auch dies fiel mir nicht schwer, denn man sah ihn selten in den Gottesdiensten und noch seltener im Kreuzgang, in der Bibliothek oder im Skriptorium. Niemand wusste, wo er seine Stunden verbrachte. Es gab darüber auch keine Gerüchte bei den Mönchen - zumindest kamen mir keine zu Ohren.
Da alle Brüder wie ermattet waren — so, als erwartete ein jeder resigniert das Unvermeidliche, ohne doch sagen zu können, worin dieses sich denn ausdrücken möge —, kümmerte sich auch der Portarius nicht sonderlich um mich.
Am frühen Morgen, direkt nach der Prim, passierte ich stets seine Stube, nickte ihm gemessen zu, schwieg jedoch über meinen Weg. Er hob müde die Hand und ließ mich hinaus.
Auf der Rue Saint-Jacques harrte ich dann immer einige Zeit aus, nervös im Schatten einer Seitengasse hin und her schreitend — in der Hoffnung, Magdalena zu sehen, die Dienerin, die mich zu meiner geliebten Klara führen könnte. Doch stets wartete ich vergebens und mein Herz wurde schwer darüber.
Dann ging ich hinunter zur Place Maubert und betrat das Kollegium de Sorbon — allerdings nicht ohne zuvor einen Abstecher bis zur Seine-Insel gemacht zu haben, um einen Blick auf den Hafen zu werfen. Dass ich die Kogge sah, beruhigte mich ein wenig, auch wenn ich wusste, dass jeder Tag, der verstrich, mich der unvermeidlichen Abreise der »Kreuz der Trave« und meiner Geliebten näher brachte. Noch immer kannte ich weder Ziel noch Zweck der heimlich geplanten Seefahrt.
Magister Jean Froissart, der hinkende Bibliothekar im Kollegium, begrüßte mich in den ersten Tagen höflich, doch misstrauisch. Nach einiger Zeit jedoch wurde er freundlicher zu mir — war ich doch oft der einzige Mensch, der sich zwischen den Lesepulten verirrte. Je länger dieser drückende Sommer andauerte, desto wilder wurden die Gerüchte über die Seuche, die irgendwo vor den Mauern von Paris lauerte. Jeder wartete auf den Ausbruch der Krankheit, fast schien es, als würden alle Bürger erleichtert sein, bräche das Schreckliche nur endlich hervor. Doch nichts geschah.
So wanderten Männer und Weiber wie ruhelos durch die Straßen. Die Bäcker buken kaum noch Brot und gar keinen Kuchen mehr, die Schneider beschränkten sich auf das Flicken von Gewändern, nähten jedoch keine neuen, die Schlächter und Gerber ließen ihre unreinen Gewerbe ruhen, die Lumpenhändler zogen nicht mehr durch die Gassen. Für die Bettler waren dies goldene Tage, denn viele Bürger waren freigebiger als sonst, da sie ihre letzten Tage fürchteten. Ertragreich war diese Zeit auch für die Waffenschmiede, denn ein jeder kaufte sich Dolche, Spieße, gar Schwerter, wenn auch niemand genau wusste, wozu sie dienen sollten — die Englischen und Burgundischen rührten sich nicht mehr. Man sagte, dass auch in ihren Lagern die Seuche mehr Landsknechte holte als jede Schlacht. Auch die Schönfrauen profitierten von der seltsamen Stimmung in der Stadt und versteckten sich nicht mehr im Schatten von Notre-Dame, sondern gingen selbst am helllichten Tage ohne Furcht über die Straßen und sprachen Männer an: mulierespublice infamatae. Viele Männer waren nur zu willig, ihren Verlockungen zu erliegen. Ich dachte an Jacquette und dieser Gedanke betrübte mich sehr. Ihr Tod blieb ungesühnt.
Auch die Bedrohung der Inquisition, die düster über dem Haupt des jüdischen Geldwechslers schwebte, wollte nicht weichen, so sehr Lea auch kämpfen mochte.
Dazu würde Klara bald die Stadt verlassen und ich ahnte nicht einmal, wohin. So fühlte ich mich denn verlassen und erfolglos und musste mich ermannen, nicht in Mitleid gegen mich selbst zu versinken.
Ich verließ die Bibliothek des Kollegiums, wenn die Glocken der Kirchen zur Vesper, zur Terz und zu all den anderen Gottesdiensten riefen. Magister Jean Froissart musste mich für einen sehr gewissenhaften Mönch halten.
Tatsächlich jedoch ging ich zwar jedes Mal zurück zur Rue Saint-Jacques, doch drückte ich mich dort nur irgendwo in eine Gasse vor dem Kloster, um mich zu verbergen. Ich hoffte, dass ich einmal auf Magdalena treffen würde - doch stets ging ich nach einiger Zeit allein zurück zu meinen Büchern.
In der Bibliothek des Kollegiums ließ ich mir zuerst das Werk des Castorius kommen. Es überraschte mich nicht mehr, als mir Magister Froissart sagte, dass sich Jahre lang niemand um das Werk bekümmert hatte - und dass ich nun schon der zweite war, der es in der letzten Zeit zu sehen wünschte.
Es überraschte mich auch nicht, dass er zwar wusste, dass ein Dominikaner dieses Buch zuvor ausgeliehen hatte — dass er jedoch nicht zu sagen vermochte, wer der Mönch gewesen sei. Als ich die Ausleihliste studierte, bemerkte ich, dass jener unbekannte Mönch einen Namen verwendet hatte, den ich noch nie gelesen hatte. Genauso wenig überraschte es mich, dass im Werk des Castorius die erste Landkarte mit einem scharfen Messer entfernt worden war. Lange starrte ich auf den Fetzen Pergament, der mir anzeigte, dass hier noch vor kurzem eine Spur gewesen war, die mich vielleicht zur terra perioeci geführt hätte. Was sollte ich nun tun? Ich fühlte mich müde und besiegt.
Doch dann sagte ich mir, dass der HERR mir zürnen würde, ließe ich mich von meiner Schwäche überwältigen. Also studierte ich, wiewohl ich keine große Hoffnung hegte, die Seiten des Castorius, welche die unbekannte Hand unangetastet gelassen hatte. Es war, wie ich befürchtet hatte: Nichts stand dort vom Land der Periöken, noch fand ich irgendetwas anderes, das mir hätte weiterhelfen können. So beschloss ich denn, da endlose Stunden vor mir lagen, dass ich meine Nachforschungen systematischer gestalten müsse. Die größte Autorität der Alten war der Philosoph Aristoteles. Noch Albertus Magnus und Thomas von Aquin hatten ihn, wiewohl ein Heide, in höchsten Tönen gepriesen. »Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben«, hatte der Philosoph verkündet.
Wiewohl mir dies lange ein höchst zweifelhafter, ja gefährlicher Satz dünkte, so glaubte ich nun, dass er das Wesen der Wahrheit enthielt. Unbestechlich war die Logik des Aristoteles, unvergleichlich sein Wissen — und sein Werk so groß, dass ich hoffen durfte, dort etwas zu finden, das dem Unbekannten, welcher alle Bücher heimsuchte, entgangen war.
Das erste Buch, dem ich mich deshalb nun zuwandte, war die Studie »Vom Himmel« des Aristoteles. »Die Form der Erde ist notwendigerweise kugelförmig«, las ich da.
Dies hatte ich schon bei Lambert von Saint-Omer im »Liber floribus« gelesen - jenem Werk des gelehrten Domherrn, das Heinrich von Lübeck kurz vor seinem Tod aus der Bibliothek des Nechenja ben Isaak ausleihen oder doch wenigstens kopieren wollte. So stimmte es also, dass dieser Christ sich auf den Heiden berief und dass sehr viele Gelehrte glaubten, dass die Erde eine Kugel sei.
Es fiel mir schwer zu glauben, dass ich auf der Oberfläche einer großen Kugel herumwanderte. Hatte nicht der ehrwürdige Kirchenvater Lactantius in seinem Buch »Divinae institutiones« verkündet, dass die Erde eine Scheibe sei? Sprach nicht der Augenschein dafür? Doch wenn die Erde eine Kugel war, dann mochte es doch wohl möglich sein, dass irgendwo jenseits des gekrümmten Horizonts ein Land zu finden sei, das unserem Blick bislang entgangen war. Sollte die Erde eine Scheibe sein, dann würde derjenige, der über ihr Ende hinaussegelte, unweigerlich in den schrecklichsten Abgrund stürzen. War sie jedoch eine Kugel, dann mochte man mit einem Schiff wohl überall hin gelangen, wo Wasser zu finden war.