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Andererseits war mir damit allein noch nicht geholfen. Aristoteles wusste wohl viele kluge Worte zu gebrauchen über die Form der Erde, der Sphären und der Sterne - doch von einem Land der Periöken schwieg er. Auch fand ich in seinen Büchern, so sehr ich auch suchte, keine verräterischen Stellen, die darauf hingedeutet hätten, dass jemand eine Seite herausgeschnitten haben mochte. Also bat ich den Bibliothekar, nach vielen langen Stunden mit den Werken des Aristoteles, mir die dreizehn Bücher des Ptolemaeus zu bringen. Auch er war Heide gewesen, doch ohne Zweifel der größte Geograf der Alten. Schon als Kind in der Klosterschule hatte ich seine Texte studieren müssen. Bis in unsere Zeit gilt er doch als der größte Kundige von der Beschaffenheit der Erde, der je gelebt hat. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis Magister Jean Froissart zurückkehrte. Noch dazu kam er mit leeren Händen und einem Gesicht, das vor Blässe glänzte wie ein Totenschädel, zurück.

»Der Ptolemaeus ist verschwunden!«, verkündete er mir mit gebrochener Stimme.

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was redet Ihr da, Meister Froissart?«, erwiderte ich. »Acht große Bücher umfasst das Werk des Ptolemaeus. Ihr werdet doch sicherlich mehr als eine Abschrift davon aufbewahrt haben?«

Der Bibliothekar nickte, dann hielt er sich am Schreibpult fest, denn Schwäche erfasste seinen Körper. »Alle Bücher sind verschwunden«, flüsterte er.

»Ich habe in der Truhe nachgesehen, in der wir sie aufbewahrt haben, und noch in etlichen anderen, weil ich zunächst dachte, dass sie möglicherweise verlegt worden sein mochten. Doch es ist wahr: Das Werk des Ptolemaeus ist aus dieser Bibliothek verschwunden, als hätte es hier nie existiert.«

»Wer hat sich die Bücher zuletzt ausgeliehen?«, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme nicht die Angst verriet, die mich gepackt hatte. Magister Jean Froissart schüttelte jedoch nur den Kopf und seufzte. »Niemand. Zumindest nicht in den vergangenen Wochen. Der letzte Eintrag in meinen Büchern ist schon über ein Jahr alt. Seither hat niemand mehr nach dem Ptolemaeus verlangt. Der HERR allein mag wissen, wann die Bücher in den letzten Monaten verschwunden sind - und wie.« Der Bibliothekar schlug das Kreuz. Er sah so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

»Wer war es denn, der das Werk vor so langer Zeit zu sehen wünschte?«, hakte ich nach, als Magister Froissart sich wieder gefangen zu haben schien. »Wisst Ihr noch seinen Namen?«

»Es war einer Eurer Mitbrüder«, sagte da der Bibliothekar leise, »und vielleicht der berühmteste Dominikaner von Paris: Philippe de Touloubre.«

Nun war es an mir, mich an das Pult zu klammern, um nicht, gelähmt vor Angst, zu Boden zu stürzen.

»Was redet Ihr da?«, fragte ich keuchend.

»Es gibt keinen Zweifel«, versicherte Magister Froissart, »Philippe de Touloubre verlangte im letzten Sommer einen Band des Ptolemaeus zu sehen, den zweiten.«

»Die anderen nicht?«

Der Bibliothekar schüttelte den Kopf. »Darüber habe ich zumindest keine Einträge gefunden.«

»Könnt Ihr Euch noch an jenen Tag erinnern?«, drängte ich. »War Meister Philippe lange in Eurer Bibliothek? War er allein?« Magister Froissart dachte lange nach. »Nun«, antwortete er schließlich zögernd, »ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. »Ich glaube, dass er damals wohl zur Mittagszeit hierher gekommen ist und das Buch von mir erbat. Begleitet wurde er von niemandem. Dann studierte er das Werk viele Stunden lang. Ich weiß noch, dass es draußen bereits dunkelte und dass alle Studenten den Lesesaal …«

Er hielt inne und fasste sich mit zitternder Hand an den Kopf. »Was habt Ihr?«, fragte ich und ahnte Böses.

»Es war spät«, flüsterte Magister Froissart, »jetzt erinnere ich mich wieder. »Ich musste viele Folianten wegräumen. Niemand sonst war mehr zugegen, außer Philippe de Touloubre und mir. Da erbot sich dieser, den Band des Ptolemaeus selbst in die Truhe zurückzutragen, da ich doch so beschäftigt sei. Dankbar nahm ich dieses Anerbieten an. Nicht im Traum misstraute ich ihm, denn er war schließlich Inquisitor!«

»Habt Ihr Meister Philippe gesehen, als er Eure Bibliothek verließ?«, fragte ich.

Magister Froissart schüttelte den Kopf. »Nein, ich achtete seiner nicht mehr.«

»Wie viele Abschriften hatte Eure Bibliothek von dem Werk des Ptolemaeus?«

»Wir besaßen zwei Exemplare von jedem Band. Eine Abschrift, die wohl schon dreihundert Jahre alt ist, und eine, die wir erst vor einigen Jahren haben anfertigen lassen, da bei den alten Bänden langsam das Pergament mürbe wurde und die Schrift verblasste.«

»Sechzehn Bände sind viel«, murmelte ich. »Doch ich erinnere mich meiner Zeit, da ich den Ptolemaeus studieren musste: Jeder einzelne Band war schmal und hatte kaum so viele Seiten wie ein Psalter. Ein Mann allein mag diese Bände schleppen können, wenn er einen Lederbeutel oder etwas Ähnliches bei sich trägt - und dieser ließe sich gut unter einer Kutte verstecken.«

Magister Froissart blickte mich entsetzt an. »Sagt nicht laut, dass Ihr einen Inquisitor des Diebstahls verdächtigt!«, flehte er mich an. »Das ist gefährlich. Außerdem ist es durch nichts zu beweisen. Warum sollte ein Dominikaner außerdem alle Werke des Ptolemaeus stehlen?«

»Das«, flüsterte ich, »ist eine gute Frage.«

*

Ich verbrachte noch so manchen Tag in der Bibliothek. Doch je mehr ich las, desto höher türmten sich vor mir die Rätsel auf, bis ich glaubte, dass mein Geist von allen Seiten eingemauert sei, und ich mich lebenden Leibes begraben fühlte.

Da ich den Ptolemaeus nicht lesen konnte, beschloss ich, andere Werke der heidnischen Autoren zu studieren, auf dass ich dort vielleicht Spuren fände, die mir weiterhelfen konnten. Doch je länger ich las, desto größer wurde die namenlose Furcht, die in mir wuchs. Ich ließ mir den Livius kommen und Cassius Dio, Plutarch und Sueton, Cicero und Marcus Aurelius. Doch nirgends wurde auch nur der Name des berühmtesten Geografen der Alten erwähnt. Keine Zeile las ich über Ptolemaeus, keinen Hinweis auf sein Werk, kein Zitat.

Ich wurde immer unruhiger und wandte mich den Kirchenvätern alter Zeit zu: Tertullian und Augustinus las ich, Lactantius und Eusebius. Schließlich studierte ich den Isidor von Sevilla, der doch das ganze Wissen seiner Zeit zusammengetragen hatte. Nichts, nichts und wieder nichts! Dicit ei Pilatus quid est veritas?

Was ich jedoch entdeckte, waren - mal in diesem Buch, mal in jenem — herausgetrennte Seiten; Stellen, die jemand, wie mir schien erst in jüngster Zeit, mit schwarzer Tinte unleserlich gemacht hatte; Zeilen, die mit einem Schabmesser aus dem Pergament gelöscht worden waren.

Stets ging es auf diesen Seiten um Geografie und um die Gestalt der Welt, der Meere und der Länder.

War es möglich, dass jemand alle Bücher genommen und überall den Namen des Ptolemaeus gelöscht hatte? So, als hätte es ihn und sein Werk nie gegeben? Warum las ich zudem nie von einem Castorius aus Ravenna? Weshalb gab es in keinem Werk eine Beschreibung der terra perioecp.

Die kalte Faust der Angst schloss sich um mein Herz, als ich an einem Vormittag nicht zum Kolleg de Sorbon gegangen war, sondern mich in die Bibliothek des Klosters in der Rue Saint-Jacques zurückgezogen hatte.

Den Ptolemaeus auszuleihen wagte ich nicht, aus Angst, dass dies die Aufmerksamkeit Meister Philippes erregt hätte. Doch ich ließ mir von einem Novizen einige der anderen Werke der Alten bringen — überall waren dieselben Seiten herausgetrennt, die gleichen Zeilen gelöscht worden.

Waren in ganz Paris die Texte auf gleiche Art von unbekannter Hand verstümmelt worden? Oder gar überall im Abendland? Wer vermochte Derartiges zu tun — wenn nicht die Inquisition? Die Mönche der Heiligen Inquisition waren gelehrt, sie kannten vielerlei Schriften, sie hatten Zugang zu jeder Bibliothek. Sie waren wohl organisiert in vielen Ländern der Christenheit. Doch warum sollte die Inquisition Bücher verändern? Weshalb vernichteten sie Texte über Geografie? Selbst wenn diese Texte, warum auch immer, ketzerisch sein sollten: Warum erklärten sie den Ptolemaeus und die anderen Werke nicht einfach vor GOTT und der Welt zur Häresie und verboten allen guten Christen, sie zu studieren? Warum diese Heimlichkeit? Wozu dieser ungeheure, doch lautlose Aufwand?