Lag in diesen Fragen irgendwo die Antwort auf das Rätsel der Ermordung Heinrichs von Lübeck verborgen? Musste er sterben, weil er dem Geheimnis um die terra perioeci auf die Spur gekommen war? Erwartete dann jeden, der dieses Geheimnis anzutasten wagte, das gleiche Schicksal? Drohte auch mir der Tod?
Seit ich als Findelkind des Dominikanerklosters zu Köln das Lesen erlernt hatte, war mir die Gelehrsamkeit immer als zwar steiniger, doch sicherer Weg zu Glück und Seelenheil erschienen. Bibliotheken — jene ruhigen Räume mit ihrem Geruch nach Pergament, Leder, Tinte und dem Staub der Jahrhunderte — waren mir Inseln des Friedens gewesen, ja geweihte Orte, Kirchen gleich.
Nun jedoch fühlte ich mich wie ein Schlafwandler, der plötzlich erwacht und sich mitten auf einem Schlachtfeld wiederfindet, wo sich finstere Ritter gnadenlos bekämpfen. Bibliotheken, so lernte ich nun, waren unsichtbare Blutacker und Bücher waren Schwert und Gift. Was sollte ich nur tun?
Sollte ich gehen und mein Herz verschließen und nicht mehr nach Texten suchen, die es nicht geben durfte?
Doch hätte ich damit nicht Klara und Lea im Stich gelassen? Hätte ich damit nicht das Andenken an Jacquette und an Heinrich von Lübeck und sogar das an den Vaganten Pierre de Grande-Rue verraten? Konnte ich, selbst wenn ich es gewollt hätte, überhaupt noch so tun, als sei nichts geschehen?
Nein, ich war längst viel zu tief in ein schreckliches Geheimnis verstrickt, das Menschen verschlang wie ein Wesen der Hölle. Ich hatte den Begriff terra perioeci gelesen — einmal geschrieben mit dem Blut des sterbenden Mönches und ein weiteres Mal auf der ersten Seite des Buches von Castorius aus Ravenna. Beide Male war der berühmteste Inquisitor von Paris Zeuge gewesen.
Hatte mich nicht ein gesichtsloser Mönch eines Nachts im Kloster entdeckt, da ich herumschlich, während sich einige Mitbrüder heimlich trafen? Mitbrüder, zu denen eben jener Philippe de Touloubre gehörte? Und war mir nicht ein Schattenmann gefolgt, als ich den Ort der Sünde verließ, nachdem ich Klaras Umarmung genossen hatte? Jene Klara Helmstede, deren Gatte wiederum von einem namenlosen Mönch das Werk des Castorius erhalten hatte und auch den Befehl, bald zu einem unbekannten Ziel aufzubrechen? Ob es nun Meister Philippe sein mochte oder irgendein anderer, der hinter all diesen schrecklichen Dingen steckte — sicher war, dass der Unbekannte wusste, dass ich ihm auf der Spur war. Möglicherweise ahnte er nicht, wie wenig ich erst herausgefunden hatte. Doch würde er tatsächlich ein Risiko eingehen und mich unbehelligt lassen?
Nein: Mir blieb nichts anderes übrig, als den Weg, den ich nun einmal eingeschlagen hatte, auch bis zum Ende zu gehen. Ich würde suchen und suchen, bis ich das Geheimnis gelöst hatte — oder bis es auch mich verschlungen hatte.
Und wenn Bücher Schwert und Gift waren — dann auch in meiner Hand.
Also gab ich nicht auf, sondern ging wieder in das Kolleg de Sorbon und ließ mir von Magister Froissart unverdrossen immer neue, immer unbekanntere Werke der Alten kommen. Vielleicht, so hoffte ich, war jenem geheimnisvollen Bücherfälscher eine Stelle entgangen, die mir auffallen würde - und vielleicht war GOTT mir gnädig.
*
Ein Drittel des Monats August war über meiner Suche schon dahingegangen. Meine Augen brannten, mein Rücken schmerzte, meine Finger waren schwarz von Staub und Tinte unzähliger Seiten, die ich gewendet hatte. Da, es war am Tage des heiligen Laurentius, schon abends, kurz bevor die Glocke mich zur Komplet rufen würde, ließ ich mir die »Anabasis« des Xenophon kommen. Es war der Bericht eines griechischen Soldaten, der wohl vor bald zwei Jahrtausenden mit einem Heer tief ins Reich des Perserkönigs gezogen war. Als Novize hatte ich den Namen jenes Heiden einmal vernommen, doch sein Werk hatte ich nie studiert. Von Schlachten las ich dort und von Städten wie Babylon, dem großen Sündenort. Ich hatte mich nie sehr um die Geschichte der Heiden bekümmert, denn warum sollten Menschen mein Interesse finden, die SEIN Wort nicht gekannt hatten? So überflog ich den Xenophon mit müdem Blick. Meine Augen eilten über die Seiten, übersprangen wohl auch manchen Satz, ja ganze Abschnitte. Es war das letzte Buch, das ich an jenem Tage studieren wollte, ich war erschöpft und hungrig und wusste, dass mich bald die Glocke rufen würde.
Ich hatte Klara seit vielen Tagen nicht gesehen und sehnte mich nach ihr. Ich hatte kein Wort von Lea gehört und wusste nicht, welches Schicksal ihr drohen mochte.
Meister Philippe hatte ich seit drei Tagen nicht zu Gesicht bekommen - was mich zunächst erleichtert hatte, da ich den Inquisitor inzwischen fürchtete. Doch nun war ich beunruhigt, denn ich wusste nicht, was diese Abwesenheit zu bedeuten hatte. Tief in meinem Innern hegte ich trotz allem noch eine große Verehrung für ihn — und langsam begann ich zu fürchten, dass jener Unbekannte ihm aufgelauert hatte, nicht mir. Mochte also dem väterlichen Mönch und Freund, vor dem ich mich verbarg, so gut ich konnte, etwas zugestoßen sein? Brauchte er, vor dem ich auswich, vielleicht meine Hilfe? Derart waren meine Gedanken, während ich durch die Seiten des Xenophon blätterte. Da plötzlich hielt ich inne, denn ich las ein Wort: Periöken.
Noch einmal studierte ich den Absatz, dann noch einmal - ich wollte meinen Augen nicht trauen. Das magische Wort stand auf jenen Seiten, auf denen Xenophon die Herkunft der griechischen Soldaten beschrieb, die gen Persien gezogen waren:
»Da waren aber auch Männer unter ihnen aus dem Land der Periöken, welche seit alter Zeit die Bundesgenossen der Spartaner sind. Doch während sich die Spartaner auf dem Schlachtfelde auszeichnen, sind die Periöken vor allem für ihre Seefahrer berühmt. Ihr Hauptort ist Gytheion, ein wohlbefestigter Hafen. Als sie vom Kriegszug vernahmen, kamen viele Periöken auf schnellen Schiffen von dort übers Meer. Denn die Periöken sind schon vor langer Zeit über den Ozean gefahren und haben an der jenseitigen Küste eine Kolonie errichtet, die ›Land der Periöken‹ genannt wird. Und selbst von dort kamen sie für diesen Krieg, obwohl sie mehrere Wochen fahren mussten, bis sie in Griechenland angelangt waren.«
Lange stand ich am Lesepult und starrte betäubt ins Nichts. Was mochte dies bedeuten? Wo also lag jenes Land der Periöken? Viel weiter war ich mit meiner Suche nicht gekommen. Und doch: Es lag jenseits eines Ozeans, viele Tagesreisen entfernt von Griechenland. Welches Meer mochte dies sein? Meinte Xenophon die Griechenland gegenüberliegende Seite des Mittelmeeres, also vielleicht Spanien oder das Land der Mauren? Oder dachte er an jene Ozeane, welche das Abendland von Babylon, Indien oder gar vom legendären Cathay trennen, wenn es dieses Land tatsächlich gibt? Oder musste ich das Land nicht vielmehr in jenem Atlantischen Ozean vermuten, in dem auch Britannien liegt?
Ich dachte an die Karte des Castorius, auf die ich kaum mehr als einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Ich dachte daran, dass die unbekannten Mönche einem Reeder aus Lübeck, der die Meere des Nordens befuhr, ihre Befehle gegeben hatten.
Wäre das Meer Richtung Indien gemeint gewesen, hätten sich die Dominikaner dann nicht eher an einen der Kaufleute aus Venedig oder Genua gewandt, deren Galeeren ja schon beinahe jene Weltgegend befuhren?
Es war wahrscheinlicher, dass das Land der Periöken im Atlantik lag, nördlich oder gar jenseits von Britannien. Sonst hätte ein Mann wie Richard Helmstede, dessen Koggen doch jedes Jahr Britannien anliefen, sicherlich schon längst davon gehört — und ebenso sein Steuermann Gernot.