Ich erbat mir von Magister Froissard, in dessen Gunst ich inzwischen sehr gestiegen war, ein Blatt Pergament, Feder und Tinte. Er war höflich genug, mir alles zu bringen, ohne mich zu fragen, wozu ich es benötigte. Dann kopierte ich rasch jene Sätze des Xenophon. Nachdem ich dies getan, die »Anabasis« zurückgegeben und dem Bibliothekar meinen Dank ausgesprochen hatte, schleppte ich mich müde ins Freie, hinaus auf die Place Maubert.
Mein Rücken und meine Glieder schmerzten, in meinen Augen brannte Feuer, meine Kehle war trocken, doch ich beachtete diese Beschwerden kaum. Die Mühsal der Arbeit schließlich ist GOTTES Strafe für den Sündenfall von Adam und Eva. Doch süß ist die Arbeit, wenn sie Früchte trägt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen glaubte ich, dass ich wenigstens eine Frucht des Wissens gekostet, dass ich wenigstens um eine Winzigkeit der Lösung des Rätsels näher gekommen war.
*
So beseelt war ich von diesem kleinen Triumph, dass es einige Momente dauerte, bis ich gewahrte, dass die Leute auf dem Platz noch sehr viel lauter durcheinanderschrieen als gewöhnlich. Ich war schon halb über die Place Maubert geeilt und hatte das steinerne Kreuz Croix Hemon passiert, als ich verstand, was die Menschen so erregte.
»Die Seuche ist da!«, kreischte eine junge, gut gekleidete Bürgersfrau und achtete dabei nicht darauf, wie würdelos sie sich aufführte. »In La Villette fallen Männer und Frauen wie Getreide vor dem Schnitter«, rief ein Bauer. »Die Toten liegen in den Straßen, dass kein Durchkommen mehr ist.«
»Und im Temple hauchen die Gefangenen ihr elendes Leben aus. Man sagt, dass nur noch Tote in dem Kerker liegen«, fiel ein Marktweib ein.
So ging es in einem fort. Ein jeder schrie so laut wie er konnte und wusste immer noch schauerlichere Geschichten zu erzählen von Krankheit und Tod. Alle diese grauenhaften Dinge sollten sich jenseits der Stadtmauern zugetragen haben, mal im Westen, mal im Osten, dann wieder im Süden oder im Norden. Gesehen hatte es niemand, gehört hatte davon jeder. So wurden die Stimmen immer lauter, als wäre ein heftiger Streit entbrannt - obwohl doch keiner eine andere Meinung zu äußern wagte als die, dass der Tod nun vor den Toren reiche Ernte hielte.
Statt demütig und ehrlich um Reue bemüht in die nächste Kirche zu streben und vor GOTT ihre Sünden zu bekennen, solange sie dies noch vermochten, brüllten und gestikulierten die Menschen wie tollwütige Tiere. Fast vermeinte ich, eine grimmige Befriedigung in ihren Stimmen zu hören, eine wahnsinnige Freude daran, dass die seit Wochen gefürchtete Seuche nun endlich in der Stadt angekommen war.
Ich fürchtete mich mehr vor der ziellosen Wut der Menge als vor der Krankheit, denn kein Leiden, das uns der HERR schickt, kann so grausam und unberechenbar sein wie die einmal entflammte Leidenschaft der Menschen. Also schlug ich meine Kapuze hoch und wollte weitereilen, da spürte ich, wie mich jemand am Ärmel festhielt. Es war Lea bas Nechenja, die Tochter des Geldwechslers. Ich hätte sie auch diesmal nicht erkannt, denn sie trug ein schlichtes Kleid ohne gelbe Judenmarke und ein Schleier umhüllte ihr Haupt und verbarg ihr Gesicht. Ihre Stimme jedoch überzeugte mich, dass sie es tatsächlich war, die vor mir stand. »Helft mir, Bruder Ranulf!«, flüsterte sie.
Ihr Griff war so fest, ihre Stimme klang so fordernd und doch zugleich so erbarmungswürdig, dass ich alle meine Bedenken sofort fallen ließ und mich an ihrer Seite durch die wütende Menge schob. Wir strebten zum Ufer der Seine, wo das Volk in weniger großer Zahl zusammengelaufen war und wir deshalb meinten, dass uns dort niemand zufällig belauschen könnte.
»Mein Vater schmachtet im Kerker der Inquisition«, stieß die junge Jüdin hier endlich hervor. »Und unser Haus ist von Euch Mönchen geplündert worden!«
Ich schlug das Kreuz und schloss für einen Moment die Augen. »HERR«, flüsterte ich, »wohin führt nur unser Weg?« Dann ermannte ich mich, ruhig und besonnen zu sein, da dies umso notwendiger war, weil offensichtlich niemand sonst mehr bei Sinnen zu sein schien.
»Was ist geschehen?«, fragte ich.
Müdigkeit und Angst zeichneten die schönen Züge der jungen Frau. »Euer Meister selbst führte an diesem Morgen wohl ein Dutzend Sergeanten und noch einmal so viele Mönche zu unserem Haus. Es war wie ein Überfall von Landsknechten.«
»Philippe de Touloubre?«, wiederholte ich ungläubig. »Der Inquisitor höchstselbst. Die Sergeanten, die ihn begleiteten, machten sich nicht einmal die Mühe, an unsere Tür zu klopfen und Einlass zu begehren. Sie schlugen uns stattdessen die Pforte ein und stürmten das Haus, meinen Vater zerrten sie weg!«
»Was wollten sie von ihm? Was warfen sie ihm vor?« Lea schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Doch ich habe auch nicht alles mit anhören können - und gesehen habe ich noch weniger, denn ich befand mich zu jener frühen Stunde, da uns der Inquisitor heimsuchte, zufällig in der Dachbodenkammer. Als ich gewahrte, was geschah, da verbarg ich mich unter einem Haufen alter Wolltücher, die wir auf dem Speicher aufbewahrten. Ich hörte wohl, wie mein Vater laut um Gnade flehte und ihn Sergeanten mit groben Beleidigungen bedachten, bevor sie ihn abführten. Doch was man ihm vorwarf, das weiß ich nicht. Als mein Vater fortgeschafft worden war, jagten die Sergeanten die Diener aus dem Haus. Diese flohen furchtsam und waren froh, dass man sie nicht auch in den Kerker zerrte.
So plünderten die Sergeanten unseren Besitz, kaum dass der letzte Diener mit Tritten und Hohnworten aus dem Haus gejagt worden war. Da sie die Dinge auf dem Speicher jedoch nur gering achteten, suchten sie dort nicht gründlich. Deshalb blieb ich unentdeckt.
Alle Räume plünderten die Männer, nur einen nicht: die Bibliothek. Der Inquisitor persönlich betrat sie und alle Mönche folgten ihm. Kein Sergeant durfte den Raum betreten.
Später wagte ich mich unter den Stoffen hervor und spähte vorsichtig aus einer Dachluke hinaus. Da sah ich, wie die Mönche Kisten auf einen Ochsenkarren luden, der vor unserem Haus stand. Was in diesen Kisten war, das vermochte ich nicht zu sagen. Doch es müssen Bücher gewesen sein, Hunderte Bücher, vielleicht gar die ganze Bibliothek meines Vaters.«
Lea atmete schwer und blieb stehen. Sie sah erschöpft aus. Ich hätte ihr gerne Wasser und Brot angeboten, doch führte ich nichts dergleichen mit.
Als sie meinen besorgten Blick sah, lächelte sie leicht und hob abwehrend die Hand. »Macht Euch keine Sorge um mich, Bruder Ranulf, ich bitte Euch. Ich harrte bis zum späten Nachmittag auf dem Dachboden aus, dann hatten Mönche und Sergeanten unser Haus leer geplündert. Ich entwich aus dem Hintereingang. Seither suche ich Euch. Ich wusste ja nicht, wo Ihr sein möget, doch schöpfte ich immerhin ein wenig Hoffnung, da ich Euch nicht unter den Mönchen sah, die der Inquisitor mit sich geführt hatte. Also ging ich zum Kloster in der Rue Saint-Jacques und harrte dort eine Weile vergebens aus. Dann schlich ich mich zum Kollegium de Sorbon, weil Ihr mir sagtet, dass Ihr dort die Werke der Geografen studieren wollt. Dort führte uns das Schicksal zusammen.«
»Ja«, murmelte ich, »das Schicksal hat uns zusammengeführt. Ein düsteres Schicksal, fürwahr.«
Die Furcht war mein ständiger Begleiter geworden, seit ich in Paris war und den Körper des toten Mönches gesehen hatte. Doch zum ersten Mal verblasste nun die Furcht vor einer anderen, noch heißeren Leidenschaft: dem Zorn.
Zorn auf Meister Philippe, der den Vater der jungen Jüdin in den Kerker geworfen und ihr Heim zur Plünderung freigegeben hatte. Zorn ist allerdings kein guter Ratgeber. Und Zorn auf einen Inquisitor ist nicht nur eine Sünde und Widersetzlichkeit gegen die Gebote der Mutter Kirche, er ist auch lebensgefährlich.
Also löschte ich die heiße Wut, die in meiner Seele kochte, und zwang mich, mit kühlem Kopfe nachzudenken.
»Ich fürchte das Schlimmste«, flüsterte Lea. »Seht Euch doch nur die Menge an, wie die Menschen schreien und zittern. Sie fürchten sich vor der Krankheit und sie wollen Blut sehen. Unser Blut, das Blut der Juden!«