»Die Seuche! Er hat die Seuche! Der HERR steh uns bei: Die Seuche ist in der Stadt!«
Dergestalt schrie ein Marktweib hinaus, was wir alle fürchteten. Für einen Moment standen wir da, als wäre uns der Blitz in die Glieder gefahren. Ich dachte nicht mehr an Lea, ich dachte nicht mehr an das Haus des Wollhändlers, ich vermochte an nichts und niemanden zu denken, als wäre meine Seele freigewaschen wie die eines Kindes am Tage seiner Geburt.
Dann glaubte ich, dass sich die Hölle aufgetan hätte. Denn plötzlich gab es ein Schreien und Toben um mich herum, wie ich es nie für möglich gehalten hätte bei den Bürgern der guten Stadt Paris. Wie von Sinnen riefen Männer und Frauen, Alte und Kinder durcheinander, eilten umher wie Schafe, die den heulenden Wolf gehört hatten, und stießen sich gegenseitig zu Boden, warfen Karren um und trachteten, sich mit Fäusten und Stöcken den Weg freizukämpfen. Da jedoch alle in eine andere Richtung fliehen wollten, war es wie das Getümmel einer Schlacht, in der jeder gegen jeden focht. Manche strebten zur Kirche Saint-Sauveur an der Rue Darnetal, dem nächstgelegenen Hause GOTTES. Andere wiederum stürzten gerade aus dieser Kirche hinaus, als sei sie keine Zuflucht mehr, sondern eine steinerne Falle.
Nur um den Bettler, der immer noch schrie, wenn auch zunehmend schwächer, tat sich ein leerer Raum auf. Glasigen Blickes starrte der Unglückliche um sich und hätte wohl flehentlich den Arm erhoben, wenn ihn die fürchterlichen Schmerzen nicht so zusammengekrümmt hätten, dass er nicht einmal zu dieser elenden Geste mehr fähig war. Er wälzte sich in Blut, Schweiß und schwärzlichem Kot und stieß mit jedem stöhnenden Atemzug seinen Lebensodem aus. Betäubt stand ich noch immer da und ließ mich von den in blinder Angst Fliehenden hin und her stoßen. Dann wandte ich den Kopf und blickte zu Lea hinüber. Die junge Jüdin hatte sich an den Rand des Brunnens geklammert und starrte mich an. Doch ihren Blick, aus dem Entsetzen sprach, wusste ich nicht zu deuten. Wollte sie, dass ich zu ihr kam, um sie aus diesem Pandämonium herauszuzerren? Oder forderte sie mich auf, dem Sterbenden beizustehen, dem niemand sonst sich näherte?
Ich wusste selbst nicht, was ich tun sollte. Ich wollte Lea retten, außerdem plagte auch mich die Furcht vor jener schrecklichen Krankheit. Andererseits befahl mir mein Gewissen, mich als Christ zu erweisen, wollte ich nicht meine Seele endgültig an Satan verlieren. So stand ich noch ein paar Atemzüge lang reglos auf der Rue Darnetal, nur ein paar Schritte von dem mir wie eine rettende Festung erscheinenden Haus des Wollhändlers entfernt.
Doch niemals werde ich erfahren, ob wohl mein christliches Gewissen — oder meine Furcht um Lea und mein eigenes, unwürdiges Leben in jenem inneren Ringen die Oberhand gewonnen hätte. Denn dem HERRN gefiel es, mir die Entscheidung abzunehmen.
*
Plötzlich spürte ich eine eiserne Faust, die sich von hinten auf meine Schulter legte. Dann hörte ich eine Stimme, die mir vage bekannt vorkam: »Haben wir dich, du falscher Mönch!«
Ich wurde herumgerissen — und fand mich von vier Sergeanten umringt. Zwei von ihnen waren jene, die Meister Philippe und mir den toten Heinrich von Lübeck gezeigt hatten. Die beiden anderen kannte ich nicht.
Sie achteten meiner auch nicht weiter, sondern stürzten sich auf Lea, die sie an Armen und Haaren packten. »Du Jüdin!«, schrie einer der beiden.
Da überkam mich ein Zorn, der entweder heilig war oder des Satans, auf jeden Fall war er unbezwinglich.
Ich schrie auf, so laut ich konnte. Da erschreckten sich die beiden Sergeanten, die mich gepackt hatten, und lockerten unwillentlich den Griff ihrer Fäuste.
Ich nutzte diesen Moment der Furcht, entwand mich ihnen und sprang zu dem keuchenden, blutüberströmten Bettler. Mit einem Ruck riss ich dem Sterbenden einen seiner vor Blut und Eiter triefenden Lumpen vom Leib und schleuderte diesen schauderhaften Fetzen den beiden Sergeanten am Brunnen vor die Füße. Die hoben entsetzt die Hände und sprangen zurück. Das war genau das, was ich erhofft hatte.
»Lauf!«, schrie ich Lea aus Leibeskräften zu, um das Gebrüll der furchtsamen Menge zu übertönen. »Lauf um dein Leben!« Einen Moment lang zögerte Lea - dann wandte sie sich ab und stürzte in die Seitengasse, die ich noch ein paar Augenblicke zuvor selbst betreten wollte. Die beiden Sergeanten, die sie festhalten sollten, erholten sich von ihrem Schrecken und rannten ihr nach. Ob Lea ihnen entkommen konnte oder ob sie von ihren Häschern eingeholt wurde, das vermochte ich nicht mehr zu sehen, denn die beiden anderen Bewaffneten waren mit einem Sprung wieder bei mir. Einer schlug mir mit dem eisenbeschlagenen Stil seiner Hellebarde über den Kopf, dass mir schwarz wurde vor Augen und ich stöhnend niedersank aufs Pflaster.
»Ein Kranker, ein weiterer Kranker!«, hörte ich wie aus großer Ferne jemanden schreien.
Doch dann, viel näher an meinem Ohr, vernahm ich die Stimme des dickeren der beiden Sergeanten, der sich zu mir niedergebeugt hatte und mir einen weiteren Stoß versetzte.
»Du entwischt uns nicht, Bruder Ketzer!«, rief er fluchend und trat mir gegen die Rippen, dass ich mich im Dreck wälzte und um Atem rang.
»Was wollt ihr von mir?«, keuchte ich.
»Wir befolgen nur Befehle«, mischte sich da der andere Sergeant ein und gebot seinem Kameraden Einhalt, bevor der mich wieder treten konnte wie einen räudigen Hund. »Wir bringen dich zum Inquisitor«, sagte er.
»Du weißt schon, wohin«, fiel ihm der Dickere ins Wort und feixte. »Nach Saint-Martin-des-Champs.«
16
DIE VISION DES INQUISITORS
Die Sergeanten schleppten mich in den Kerker der Inquisition. Ich wehrte mich nicht, sondern ließ mich abführen, als hätte ich keinen Willen mehr. Da jedermann vor dem sterbenden Bettler geflohen war, zerrten mich die beiden Bewaffneten durch die verlassene Rue Darnetal. Die Menschen, die wir auf unserem weiteren Weg trafen, achteten kaum auf uns. Zu groß war die Furcht vor der Seuche, als dass sich jemand um zwei Sergeanten und einen Mönch bekümmert hätte. Die erste Folter, welche ich in Saint-Martin-des-Champs zu spüren bekam, war die Qual der Ungewissheit. Denn mit einem heftigen Stoß landete ich in einer der Zellen in jenem unterirdischen Verlies, das ich erst kurz zuvor als Protokollant des Inquisitors betreten hatte.
Dort blieb ich. Stundenlang. Tagelang.
Ich lag auf fauligem Stroh. Wanzen saugten mir das Blut aus den Adern. Ab und an öffnete eine Hand die Klappe in der winzigen Kerkerpforte und schob mir etwas hartes Brot und einen Krug schalen Wassers hin. Beides schlang ich sofort in mich hinein, denn beim ersten Mal, da ich zu erschöpft gewesen und zuvor eingeschlafen war, stellte ich nach dem Erwachen fest, dass Ratten, groß wie kleine Katzen, meine erbärmliche Mahlzeit gefressen hatten. Manchmal fiel der Schimmer einer Kerze oder Fackel durch den Spalt unter der Kerkertür hinein in meine Zelle, die meiste Zeit jedoch blieb es finster wie in einem Grab. Auch vernahm ich nichts: keine Stimme, keine Schritte, nicht das geringste Geräusch. Ich war allein mit meinen Gedanken.
Meine Sorgen galten Lea und Klara. Ob der jungen Jüdin die Flucht geglückt war? War nicht auch die Gattin des Reeders in Gefahr? Denn offensichtlich hatten uns die Sergeanten ja beim Haus des Wollhändlers aufgelauert, also wusste die Inquisition von unserer sündigen Verstrickung dort. Doch was konnte ich noch tun? Nichts, rein gar nichts.