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— Ich kann mir vorstellen, dass man da ganz schön einsam wird, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Aber es fallen einem auch bestimmt ein paar Sachen auf.

War das eine Aufforderung?

— Ja, sagte ich und versuchte, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Man kriegt schon einiges mit, also zum B–

— Ich hab ihn früher wirklich bewundert, unterbrach mich Frau Häusler-Zinnbret. Seine Arbeitsmethoden. Und diese absolute Beherrschung aller Techniken. Er war blitzschnell, wissen Sie. Wirklich blitzschnell. Ein Virtuose. Aber dann war ich einmal mit ihm in einer seiner Wiener Fördergruppen, also hauptsächlich Kinder mit Down-Syndrom und auch ein paar andere Beeinträchtigungen waren dabei … Jedenfalls hat er dieses Spiel mit ihnen gespielt, Reise nach Jerusalem, aber mit gleich vielen Stühlen wie Teilnehmern. Also vollkommen sinnlos. Und er hat irgendeinen Abzählreim aufgesagt, und die äh … die Kinder sind im Kreis gelaufen und dann, bumm! haben sie sich hingesetzt. Und dann haben sie sich gegenseitig angeschaut, als wollten sie sagen: Und was hat das jetzt für einen Sinn? Aber Dr. Rudolphs Theorie war, dass niemand ausgeschlossen werden darf, erst recht nicht das langsamste Kind. Keine Gewinner, keine Verlierer. Na ja, wie gesagt, ein Fanatiker. Er hat immer gesagt, es gibt keine Happy Ends, nur hin und wieder Fair Ends.

— Fair Ends, sagte ich. Ja, genau. Das hat er oft gesagt.

— Ein Irrer, sagte Frau Häusler-Zinnbret.

Der Fächer in ihrer Hand bewegte sich zustimmend.

— Er hat mir unmissverständlich klargemacht, sagte ich, dass ich im Institut nicht mehr erwünscht bin.

— Aha, sagte sie und ließ eine Pause entstehen.

Ich spürte, wie die Hitze in mein Gesicht stieg. Ich nahm einen Schluck Wasser und wollte den obersten Knopf meines Hemdes lockern. Aber er war bereits offen.

— Um auf Ihre eigentliche Frage zurückzukommen, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Es ist schon eine Weile her, dass ich direkt mit einem Di… mit einem dieser armen Geschöpfe zu tun hatte. Sie sind ja, Gott sei Dank, selten … immer noch relativ selten, ja … Aber das soll nicht heißen, dass ich mich nicht gut erinnern könnte. Allerdings müssen Sie mir schon konkrete Fragen stellen, Herr Seitz, sonst kann ich nichts erzählen.

— Natürlich.

Ich nahm meinen Notizblock aus der Tasche.

Drei Fragen hatte ich notiert. Mehr war mir nicht eingefallen. Gerne würde ich behaupten, dass ich aus Erfahrung wusste, dass man in einem ungezwungenen Gespräch immer viel mehr erfährt als in einem klassischen Interview mit vorbereiteten Fragen — aber ich verfügte über keinerlei Erfahrung.

— Ja, also meine erste Frage wäre … Wann haben Sie das erste Mal mit Indigo-Kindern gearbeitet?

Man sah Frau Häusler-Zinnbret an, dass sie auf diese Frage vorbereitet war. Sie war ihr bestimmt Hunderte Male gestellt worden, und in ihrem Blick lag ein Vorwurf: Das hätten Sie auch in anderen Interviews mit mir nachlesen können, junger Mann. Ich nahm einen Schluck Geschirrspülwasser und setzte meinen Stift auf den Notizblock, bereit, alles mitzuschreiben, was da kommen mochte.

— Na ja, sagte sie, natürlich ab dem Zeitpunkt, als das Problem zum ersten Mal richtig akut geworden ist. Das war so 95 oder Anfang 96, da gab es die ersten Berichte. Da waren Sie ja auch schon auf der Welt, oder? Und wie das bei solchen Dingen immer ist, gab es jede Menge uninformiertes Geschwätz und journalistisches Chaos, das relativ schnell unerträglich wurde, zumindest für mich und einige andere … und da hab ich dann beschlossen, etwas zu unternehmen. Etwas Licht in die Sache zu bringen.

Ich hatte mitgeschrieben. Auf dem Block stand: PROB. AKUT 95 / 96, DANACH ∃ GESCHWÄTZ. → DAGEGEN WAS UNTERNEHMEN.

— Können Sie das hinterher wirklich lesen? Entschuldigen Sie, dass ich spicke …

An diesem Wort und auch an der einen oder anderen etwas fremd klingenden Silbe hörte man Frau Häusler-Zinnbrets deutsche Herkunft. Sie stammte aus Goslar, wohnte aber schon seit mehr als dreißig Jahren in Österreich.

— Ist meine Geheimschrift, sagte ich. Ich schreibe immer in Blockbuchstaben.

— Tatsächlich? Und warum? Ist die Schreibschrift denn nicht einfacher für schnelles Notieren?

— Nein, für mich nicht. Ich hab mich nie an sie gewöhnen können.

— Interessant.

Ihr Nicken war eindeutig das einer Pädagogin, als hätte sie sich ihr ursprüngliches Nicken wie einen schwerverständlichen Dialekt erst spät im Leben, etwa während des Studiums, abgewöhnt und arbeite seitdem an diesem neuen Nicken. Und ihr Zeigefinger machte wieder: Soso. Bestimmt hatte sie auch schon einen Namen für diese Störung parat, eine besondere Form der Dysgraphie, eine Abneigung gegen die durchgehende Linie, das Kind, das lieber mit Buchstabensuppe spielt als mit Spaghetti …

— Und Sie können das Gespräch anhand dieser Notizen rekonstruieren?

— Ja, das ist wie Instant-Kaffee, man nimmt das Pulver, und dann braucht man nur etwas heißes Wasser hinzuzugeben und …

Ich brach ab, weil der Vergleich misslungen war.

– Äh, Frau Häusler, sagte ich, Sie haben erwähnt, dass das Problem zum ersten Mal damals aufgetreten ist. Wurde es denn so wahrgenommen? Als Problem?

— Na, also … Selbstverständlich, was glauben Sie denn? Die Leute sind reihenweise krank geworden und haben nicht gewusst, woran das liegt. Mütter, die sich über der Wiege ihres Kindes erbrechen. Eine einzige Schweinerei. Schwindel, Durchfall, Hautausschläge, bis hin zur permanenten Schädigung aller inneren Organe, das sind ja ernste Symptome, die auch nicht immer psychosomatisch zu erklären sind. Verständlich, dass da Panik aufkommt, oder?

Ich nickte.

SCHWINDEL, DURCHF., HAUT, SCHÄDIG. ∀ ORGANE.

— Und dann sind erste Stimmen laut geworden: Ja, die Symptome treten immer nur dann auf, wenn ich zu Hause bin, nur in der Nähe der Kinder und so weiter.

Als Frau Häusler-Zinnbret diese Stimmen nachahmte, verwendete sie einen stark übertriebenen österreichischen Tonfall. Ich musste darüber lachen.

— War aber so, genau so, sagte sie. Sie hätten bestimmt nicht gelacht, wenn Sie dabei gewesen wären. Es war gruselig.

— Ja, das kann ich mir vorstellen.

— Und diese Hysterie der Menschen. Wie sie mit ihren Geigerzählern in den Kinderzimmern herumgelaufen sind und die Fußböden herausgerissen haben, und alles, wirklich alles haben sie untersucht, aber da war nichts. Nichts.

∀ UNTERSUCHTE WOHNUNGEN: ERG = Φ

— Außer …

— Na ja, diesen letzten Schritt wollte damals natürlich niemand gehen. Man vergisst immer: Als sie der Krankheit einen Namen geben mussten, haben sie sie anfangs nach dem ersten Kind benannt, das nachweislich von ihr befallen war. Beringer-Krankheit … Aber der Name ist ganz schnell wieder aus der medizinischen Literatur verschwunden, er hat nicht einmal das kollektive Bewusstsein erreicht. Dann haben sie es Rochester-Syndrom oder Rochester-Krankheit genannt, diese einfallslosen Feiglinge … aber auch das hat sich Gott sei Dank nicht durchgesetzt. Der Einwand war, dass eine solche Benennung diskriminierend ist, so wie der erste Name von Aids. Wissen Sie, wie Aids in den frühen Achtzigerjahren hieß?

— Nein.

— GRID. Gay Related Immune Deficiency. Kann sich heute natürlich keiner mehr dran erinnern. Werden ganz schnell vergessen, solche Namen. Indigo, der Name hat sich dann komischerweise am Ende etabliert, obwohl er sicher der lächerlichste von allen ist. Total absurd. Aus irgendwelchen Esoterikratgebern entlehnt. Dabei sind die Kinder ja nicht blau, und die Leute, die krank werden, ebenfalls nicht.

Es entstand eine kurze Pause, da ich nicht schnell genug mitschreiben konnte.