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— Und wann haben Sie zum ersten Mal mit einem dieser Kinder gearbeitet? Wie hat sich das ergeben?

— Hm. Ich war damals nicht wirklich an solchen familienübergreifenden Problemen interessiert, obwohl das heute vielleicht engstirnig klingt. Aber damals, ich meine, die späten Neunziger, das waren sozusagen die zweiten Siebziger für die Entwicklungspsychologie. Es war eine irre Zeit.

KEIN FAM.-ÜBERGR. PROBL., ENGSTIRNIG, 90ER = 70ER, IRRE t

— Aber natürlich, redete Frau Häusler-Zinnbret weiter, natürlich kann man das oft nicht einfach so ausblenden, ich meine dieses ganze Problemfeld, Schule, Elternhaus, Veranlagung, Lernumgebung, Begabung, wie wird ein Kind, das bestimmte Schwierigkeiten in der Schule hat, beispielsweise durch seine persönliche Umgebung eingeengt und so weiter. Jedenfalls habe ich immer deutlicher gemerkt, dass ich diese … Okay, ich gebe Ihnen am besten ein Beispiel, ja? Ich betrete einen Raum, und da brüllt irgendeine Oper in voller Lautstärke aus einer Stereoanlage, schon mal das sehr komisch, und die Familie auch vollkommen hysterisch, in Tränen aufgelöst, und ich sehe das Kind im Gitterbett und, mein Gott, das war vielleicht ein Anblick, dieses vollkommen ratlose kleine Gesicht. Ehrlich und aufrichtig ratlos, dabei erst zwei Jahre alt. Aber bereits mit seinem Latein am Ende, sozusagen.

Ich nickte nur.

— Dabei war diese Zeit noch nicht so hysterisch wie die heutige. Damals durfte man immerhin jemanden, der sich mit der Hand an die Schläfen griff, fragen, ob er Kopfschmerzen hat. Aber heute, päh! Unmöglich. Denn es könnte ja direkt hinter ihm … ach, was für ein Elend …

Sie lachte. Und fügte hinzu:

— Sie wissen genau, was ich meine, oder?

Ich nickte unbestimmt.

— Wie oft haben Sie sich einen solchen Fauxpas geleistet?

— Ein paar Mal.

— Dr. Rudolph, sagte Frau Häusler-Zinnbret kopfschüttelnd. Ich wette, er bringt sogar seinen Hunden bei … ach, egal. Auf Tiere hat es ja auch gar keine Auswirkung, von einigen Ausnahmen abgesehen. Diese Fälle sind Gott sei Dank sehr selten. Und es könnte sich bei ihnen auch um ganz normale statistische Schwankungen handeln. Bei einem Affen aus einer Versuchsanstalt zum Beispiel, der war, warten Sie, ich schaue kurz nach …

Sie stand auf und ging zu ihrem Bücherschrank.

— Ich zeig Ihnen das Bild, murmelte sie.

Als sie es gefunden hatte, hielt sie das aufgeschlagene Buch in meine Richtung. Das Bild zeigte einen Affen in einem Karton. Das Gesicht schmerzverzerrt. Ich wandte mich ab, streckte eine Hand abwehrend aus und sagte:

— Nein danke, lieber nicht.

Sie schaute mich überrascht an. Ihr rechter Schuh machte eine kleine Drehung. Dann hörte ich, wie sie das Buch zuklappte.

— Wie? Sie möchten lieber nicht, dass ich Ihnen das Bild zeige, oder –

— Ja, sagte ich. Ich halte so etwas nicht aus.

— Aber Sie müssen doch wissen, wie das aussieht, wenn Sie sich für diesen Themenkomplex interessieren. Es ist auch gar nicht so schlimm, warten Sie …

Ich hielt mich an der Sitzfläche meines Stuhls fest. Julia hatte mir geraten, bei plötzlicher Angst meine ganze Aufmerksamkeit auf etwas Vergangenes zu richten. Wie immer fiel mir die weiße Freitreppe ein. Wolkenloser Himmel. Die Venus am hellen Tag sichtbar.

— Machen Sie die Augen auf, sagte Frau Häusler-Zinnbret sanft. Es ist alles okay.

— Entschuldigen Sie, sagte ich. Ich reagiere ganz schlecht auf solche Dinge. Tiere und so. Wenn sie … Sie wissen schon. Es ist sozusagen eine Phobie von mir.

Eine kurze Pause. Dann sagte sie:

— Phobie. Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist, Herr Setz. Sind Sie sicher, dass Sie das Bild von dem Affen nicht sehen wollen? Soll ich es Ihnen vielleicht beschreiben? Die Vorrichtung? Würde das helfen?

— Nein, bitte …

Ich musste mich nach vorne lehnen, um besser Luft zu bekommen.

— Du meine Güte, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Nein, dann lasse ich Sie damit natürlich in Ruhe.

— Danke, sagte ich.

Mein Gesicht war heiß, und ich hatte das Gefühl, durch ein Aquarium zu blicken.

— Waren Sie deswegen schon mal in Behandlung? fragte sie in dem bisher freundlichsten Tonfall, den ich an ihr wahrgenommen hatte. Ich könnte Ihnen jemanden empfehlen, wenn Sie …

— Nein, danke.

— Wirklich? Ich glaube schon, dass Sie sich damit auseinandersetzen sollten. Zum Beispiel Schreibübungen. Versuchen, das zu visualisieren, was einem Angst macht.

— I-in Ihrem Buch, sagte ich. Da vergleichen Sie … also … ganz am Anfang, also … da schreiben Sie, dass die Kinder wie dieser versunkene Stahl in …

Eine etwas längere Pause. Ich machte eine entschuldigende Gebärde.

— Ja, also, sagte Frau Häusler-Zinnbret, da haben Sie vermutlich die alte Ausgabe gelesen. Hab ich mir eigentlich schon gedacht. Macht aber nichts, der Fehler lässt sich leicht beheben.

Sie stand auf und ging zu einem Regal, nahm ein Buch heraus und brachte es mir. Es sah genauso aus wie das, das ich gelesen hatte. Als ich es aufschlug, sah ich, dass das Vorwort durch ein neues, viel kürzeres ersetzt worden war. Dafür gab es jetzt eine Schwarzweißabbildung, die ein Kind in einem Gitterbett zeigte. Das Kind, etwa zwei oder drei Jahre alt, stand aufrecht und hielt sich mit einer Hand an den Holzstäben fest. Es weinte, aber das Gesicht wirkte nicht verzweifelt, eher neugierig und erleichtert, als wäre derjenige, den das Kind lange herbeigesehnt hat, endlich ins Zimmer gekommen.

— Das Bild habe ich aufgenommen, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Mit einem Teleobjektiv.

Während sie das Bild näher an mein Gesicht führte, legte sie mir eine Hand auf den Rücken.

Tommy

Tommy Beringer wurde am 28. Februar 1993 in Rochester, Minnesota, geboren. Er war das dritte Kind von Julian Stork, einem Elektrotechniker und Informatiker, und Roberta Beringer, die bei der Geburt von Tommy gerade mal vierundzwanzig Jahre alt war. Ihr erstes Kind hatte sie bereits mit sechzehn bekommen. Das Paar war Ende der Achtzigerjahre von Sharon Springs, Kansas, nach Rochester gezogen, beide stammten aus kinderreichen Familien. Julian hatte sein Studium an der University of Kansas School of Engineering mit Auszeichnung abgeschlossen und fand bald einen relativ gut bezahlten Job, der es Roberta ermöglichte, zu Hause zu bleiben und auf die Kinder aufzupassen.

Kurz nach der Geburt von Tommy wurde Roberta krank. Es begann mit Gleichgewichtsstörungen und tagelang andauernder Übelkeit. Später kamen starker Durchfall und kurzzeitiger Verlust der Orientierung dazu. Da Roberta auch schon nach ihren ersten zwei Geburten gesundheitliche Probleme gehabt hatte, dachte sie sich nicht viel dabei und ging nicht zum Arzt. Aber kurz darauf wurden auch ihre beiden Söhne Paul und Marcus krank. Und sie zeigten ähnliche Symptome.

Ein Arzt vermutete ein Problem mit der Ernährung. Ein anderer meinte, dass es sich bei den Symptomen vielleicht um allergische Reaktionen auf bestimmte beim Bau der Wohnung verwendete Kunststoffe handeln könnte. Als auch Julian an starken Kopfschmerzen und Übelkeit zu leiden begann, beschloss die Familie, umzuziehen. Sie gaben ihre Wohnung auf und bezogen ein kleines Haus, für dessen Kauf sie eine Hypothek aufnehmen mussten.

Die Symptome klangen nicht ab, verstärkten sich sogar. Bald bemerkte Julian, dass es ihm besserging, wenn er in der Arbeit war, und dass seine rasenden Kopfschmerzen immer dann einsetzten, wenn er einige Stunden zu Hause verbracht hatte. Am Wochenende plagten sie ihn den ganzen Tag.

Eine Woche Urlaub auf der Farm von Robertas Eltern in Sharon Springs brachte auch keine nennenswerte Verbesserung. Es musste also doch etwas mit der Ernährung zu tun haben. Eine makrobiotische Diät wurde versucht, auch ein Rohkost-Monat. Am Ende des Monats musste Roberta eines Nachts mit akuter Atemnot ins Krankenhaus gebracht werden. Dort erholte sie sich relativ schnell von ihren Symptomen. Die Ärzte sagten ihr, dass sie vollkommen gesund sei, wiesen aber darauf hin, dass eine frühe Mutterschaft und die seither konstant hohe Nervenbelastung, die die Versorgung von drei kleinen Kindern für eine junge Frau selbstverständlich mit sich brachte, oft derartige Ermüdungserscheinungen hervorrufen könne. Sie rieten ihr zu einem Kuraufenthalt und zur Einstellung eines Halbtags-Kindermädchens.