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— Heißt das, ich bin verrückt? fragte Roberta die Ärzte.

Sie versicherten ihr, dass alles in Ordnung mit ihr sei. Sie sei sehr müde und übertrage das möglicherweise auch auf ihre Kinder. Es würde ihr und den drei Söhnen bestimmt guttun, eine neue Person im Haushalt zu haben.

Julian gefiel die Idee mit dem Kindermädchen nicht. Er machte sich, berechtigterweise, Sorgen um die finanzielle Situation der Familie. Immerhin hatten sie gerade dieses Haus hier gekauft und waren weit davon entfernt, es als ihr Eigentum betrachten zu können. Die Verpflichtung eines Kindermädchens sei schlicht und einfach undurchführbar, meinte er. Aber natürlich verstand er, dass es so wie bisher auf keinen Fall weitergehen konnte. Jedes Mal, wenn er seine gut ausgeruhte, von allen gesundheitlichen Beeinträchtigungen befreite Frau im Krankenhaus besuchte, wurde ihm der Unterschied bewusst. Sie war voller Energie, spielte mit Paul, der damals bereits acht oder neun Jahre alt war, im Aufenthaltsraum des Krankenhauses Schach und sprach mit lauterer Stimme als gewöhnlich, ja, sie war sogar zu Witzen aufgelegt und schäkerte mit den jungen Ärzten.

Julian litt weiter an starken Kopfschmerzen, aber durch Schmerzmittel ließen sich diese einigermaßen in den Griff bekommen. Und den Kindern ging es inzwischen auch ein wenig besser. Es war Sommer, Paul und Marcus spielten tagsüber viel im Garten des kleinen Hauses, und der ältere Bruder brachte dem jüngeren das Radfahren bei. Doch kurz nachdem Roberta nach Hause zurückgekehrt war, traten die Symptome bei ihr wieder auf. Im Herbst litt die ganze Familie, außer dem kleinen Tommy, an blutigem Durchfall und Hautausschlägen. Um ihn nicht anzustecken, brachten sie ihn für einige Wochen zu seinen Großeltern nach Sharon Springs. Der Durchfall, an dem die ganze Familie litt, besserte sich sofort, auch die anderen Symptome verschwanden, praktisch über Nacht.

Als sie nach einigen Tagen einen Anruf von Robertas Mutter Linda erhielten, die ihnen mitteilte, dass sie den kleinen Tommy wohl doch wieder abholen müssten, erschraken die Eltern. Linda klagte über Brechdurchfall und starke Schwindelattacken, die sie plötzlich überfielen, heute Morgen, sagte sie, sei sie sogar mit einer Tasse heißem Kakao in der Küche ohnmächtig geworden. Was da alles hätte passieren können!

Sie holten Tommy ab. Im Auto wurde Julian schlecht, und er musste rechts ranfahren, um sich zu übergeben. Danach setzten motorische Störungen ein. Er konnte den Zündschlüssel nicht mehr im Schloss drehen.

— Es ist das schlimmste Gefühl auf der Welt, sagte er später. Wenn man für jede kleinste Handlung zu schwach ist, wirklich körperlich zu schwach. Es ist, als ob der eigene Organismus beschlossen hätte, einfach Schluss zu machen, abzusterben.

Und Roberta fasste die kommenden Monate und Jahre folgendermaßen zusammen:

— Man kann sich die Odyssee nicht vorstellen, die wir hinter uns haben. Wenn es nicht um das Wohlergehen unserer Kinder ginge, hätte ich längst aufgegeben, schon vor Jahren.

Das Bild, das alle mit dem Namen Tommy Beringer assoziieren, zeigt ihn als Baby. Sein angewiderter und dabei ungewöhnlich erwachsen wirkender Gesichtsausdruck und der misstrauisch zur Seite geneigte Kopf dürften wohl der Grund für die außerordentliche Popularität der Aufnahme sein, sie scheint sozusagen einen Nerv getroffen zu haben und ziert T-Shirts, Poster, Albumcover und als Schablonenbild Graffitiwände auf der ganzen Welt.

Ebenfalls berühmt geworden ist das Bild der zweigeteilten Kammer. In der Mitte befindet sich eine dicke Bleiwand. Links von ihr sitzt der kleine Tommy Beringer in einer Spielkiste voller bunter Schaumstoffbälle, rechts sitzt die weibliche Versuchsperson, angeschlossen an verschiedene medizinische Geräte, die Hautwiderstand, Herzfrequenz, Gehirnaktivitäten und andere Körperfunktionen messen. Das Bild stammt vom australischen Fotografen David J. Kerr, der es bei einem der zahlreichen Tests aufgenommen hat. Mit einem Teleobjektiv. Denn alle aus nächster Nähe von Tommy geschossenen Bilder waren entweder unscharf oder wirkten, als hätten dem Fotografen heftig die Hände gezittert.

Die Versuchsperson hat keine Ahnung, welches Kind sich auf der anderen Seite der Wand befindet. Es könne ein I-Kind, aber auch ein völlig unauffälliges sein, hat man ihr erklärt. Skepsis gegenüber dem behaupteten Effekt spiegelt sich im Gesicht der jungen Frau wider. Schon nach einer halben Stunde musste das Projekt abgebrochen werden, da sowohl der jungen Frau als auch einem Arzt schlecht geworden war.

Tommy wurde auf eine Isolierstation gebracht, auf der sonst nur Strahlenopfer behandelt wurden. Die ganze Station war leer, Tommy weinte oft und wurde von einer Krankenschwester betreut, die zu jeder vollen Stunde für nicht mehr als fünf Minuten zu ihm ging, ihn fütterte und reinigte und die Spielsachen, die er auf den Boden geworfen hatte, zurück zu ihm ins Gitterbett legte.

Im Jahr 1999, als Tommy sechs Jahre alt war, wanderte die Familie, überfordert von der Aussicht weiterer Tests und Interviewanfragen, nach Kanada aus. Julian trennte sich 2002 von seiner Frau und wohnt inzwischen wieder in Rochester. Er spricht nicht gerne über die Vergangenheit. Roberta Beringer und ihre drei Söhne wurden 2004 kanadische Staatsbürger. Sie leben sehr zurückgezogen, nehmen an der weltweiten Debatte um das Indigo-Phänomen nicht teil. Jeder Versuch, Tommy Beringer ausfindig zu machen, wird von der Mutter konsequent abgeblockt. Er ist in keinem Schulregister des Landes gemeldet, und eine Webseite mit seinem Namen, auf der hin und wieder Fotos eines Teenagers auf einem Fahrrad und kurze, pathetische Texte über das Weltall und die Einsamkeit gepostet wurden, stellte sich als Scherz zweier College-Studenten aus Kalifornien heraus.*

* Die britische Band The Resurrection of Laura Palmer benannte ihr zweites Studioalbum, The Beringer Tree, nach dem Jungen.

2 Robert Tätzel, 29, ausgebr

Man brachte ihm den Affen in einer Holzkiste. Die Kiste sah überhaupt nicht nach Labor oder Wissenschaft aus, sie war dunkel und wies einige hellere Flecken und Abwetzspuren auf. Es war schwer zu sagen, was normalerweise darin aufbewahrt wurde.

Robert hatte die Staffelei fertig aufgestellt, die Farbtupfer auf der Palette (er bevorzugte eine kleinere, da zu viel Auswahl ihn lähmte) sahen aus wie ein von einem Planungskomitee entworfener Regenbogen. Alle Pinsel waren neu, vor fünf Minuten hatte er sie aus der Hülle genommen. Er liebte den Geruch jungfräulicher Pinsel.

Das Bild, das er malen würde, war von eher kleinem Format. Dünnflüssige Farben auf dick aufgetragenem Untergrund. A thin paint will stick to a thick paint, hatte Bob Ross (die andere tiefe Stimme neben Adam West, die direkt mit Gott in Verbindung stand) auf der Lern-iVD gesagt.

Der Affe machte ein Gesicht, als erkenne er Robert. Er streckte eine runzelige schwarze Hand nach ihm aus. Als die Hand nicht ergriffen wurde, führte er sie an seinen Mund und biss sanft hinein. Die Koordination seiner Armbewegungen bereitete dem Affen offenbar große Schwierigkeiten. Besonders seine linke Körperseite schien beeinträchtigt.

— Was ist mit ihm? fragte Robert, ohne von seiner Leinwand aufzusehen, den jungen Labortechniker, der das Tier gebracht hatte.

— Er wird nicht mehr verwendet, lautete die Antwort.

Der Techniker ging einmal um die Kiste herum, legte seine behandschuhte Hand auf den Rücken des Affen und kippte ihn nach vorne. Robert sah: Der Hinterkopf des Affen war kahlrasiert, und etwas, das wie ein winzig kleiner Wasserhahn aussah, ragte aus dem Schädel, komplett mit Drehverschluss und einer feucht glänzenden Mündung.