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Sanft, aber beharrlich bahnte sich das Licht der Morgenröte einen Weg durch die Spalten in den Vorhängen von Jainas Schlafgemach. Doch sie war daran gewöhnt, um diese Zeit aufzustehen, und so blinzelte sie mit einem verschlafenen Lächeln und streckte ihre Glieder. Anschließend schwang sie die Beine aus dem Bett, stand auf, um sich eine Robe überzuwerfen, und zog die dunkelblauen Vorhänge zurück.

Es war ein wundervoller Morgen, rosa, golden und lavendelfarben, denn die Sonne hatte die Schatten der Nacht noch nicht gänzlich vertrieben, und als sie das Fenster öffnete und die salzige Luft tief einatmete, brachte der Wind ihr vom Schlaf zerzaustes Haar noch ein wenig mehr durcheinander. Das Meer, immer das Meer. Sie war die Tochter eines Lordadmirals, und ihr Bruder hatte einmal gescherzt, dass in den Adern der Familie Prachtmeer Salzwasser fließe. Ein Schleier der Melancholie fiel über sie, als sie an ihren Vater und ihren Bruder dachte. Einen Moment lang blieb sie noch an dem offenen Fenster stehen, in Erinnerungen versunken. Dann wandte sie sich um.

Nachdem sie ihr Haar gekämmt hatte, setzte sie sich an einen kleinen Tisch. Hier entzündete sie durch ihre Gedanken eine Kerze und starrte dann in die flackernde Flamme. Sie begann jeden Tag auf diese Weise, falls sie Zeit dafür hatte; es half ihr, sich zu konzentrieren und sich auf all die Herausforderungen vorzubereiten, die die Welt heute für sie bereithalten …

Ihre blauen Augen weiteten sich, und mit einem Mal war sie hellwach. Etwas würde geschehen. Sie erinnerte sich an das Gespräch, das sie gestern Abend mit Kinndy geführt hatte (das Gnomenmädchen schlief sicher noch – sie hätte ebenso gut als Nachtelfin geboren sein können, so lange, wie sie immer aufblieb) – an das, was ihre Schülerin über den Besuch in Dalaran gesagt hatte, und an ihr besorgtes Gesicht nach diesen Worten. Es ist nur – ich hatte das Gefühl, etwas in Dalaran würde nicht stimmen. Man konnte es in der Luft spüren.

Jaina spürte nun ebenfalls etwas, so wie ein alter Seemann, der es in seinen Knochen fühlt, wenn ein Sturm heraufzieht. Da war ein vages Zittern der Vorahnung in ihrer Brust. Ihr morgendliches Ritual würde warten müssen. Rasch badete sie und zog sich an, und als einer ihrer vertrautesten Berater, der Erzmagier Tervosh, an der Tür klopfte, war sie bereits unten und hatte Tee gemacht. Im Gegensatz zu Kinndy hatte er keine offiziellen Bande mit den Kirin Tor; er war lieber auf sich allein gestellt, so wie Jaina, und während ihrer Zeit in Theramore war zwischen den beiden Einzelgängern eine tiefe und bereichernde Freundschaft entstanden.

„Lady Jaina“, begrüßte er sie. „Ich – nun – da ist jemand, der dich sehen möchte.“ Dabei machte er keinen sehr glücklichen Eindruck. „Er will seinen Namen nicht nennen, aber er hatte diesen Geleitbrief von Rhonin. Ich habe ihn bereits überprüft; er ist echt.“

Er reichte ihr die Schriftrolle, die mit dem vertrauten Augensymbol der Kirin Tor versiegelt war. Als Jaina das Siegel gebrochen hatte und zu lesen begann, erkannte sie sofort Rhonins Handschrift.

Werte Lady Jaina,

ich bitte Euch, diesem Mann zu geben, was immer er benötigt. Seine Aufgabe ist von erschreckender Wichtigkeit, und er braucht alle Unterstützung, welche wir, die wir die Magie beherrschen, ihm nur bieten können.

– R.

Jaina atmete schwer aus. Was ging hier vor, dass Rhonin solch drastische Worte wählte?

„Führ ihn herein“, sagte sie. Tervosh, der so bestürzt dreinschaute, wie Jaina sich fühlte, nickte und zog sich zurück. Während sie wartete, schenkte sie sich eine Tasse Tee ein und nippte nachdenklich daran. Einen Augenblick später trat ein Mann mit einem Mantel in den Salon, die Kapuze tief vors Gesicht gezogen. Er trug schlichte Reisekleidung, die allerdings keine der Spuren aufwies, wie man sie nach einer so langen Strecke erwarten könnte. Ein blauer Umhang aus edlem Stoff flatterte bei seinen geschmeidigen, schnellen Bewegungen hinter ihm her, als er sich verbeugte und dann wieder aufrichtete.

„Lady Jaina“, begann er mit höflicher Stimme. „Verzeiht, dass ich Euch zu so früher Stunde und ohne Ankündigung aufsuche. Ich wünschte, meine Ankunft hier hätte unter besseren Umständen stattfinden können.“

Mit diesen Worten zog er die Kapuze zurück, die seine Züge bislang verborgen hatte, und warf ihr ein verunsichertes Lächeln zu. In seinem Gesicht vermischten sich die besten Eigenschaften von Mensch und Elf, eingerahmt von blauschwarzem Haar, das bis auf seine Schultern herabfiel, mit blauen Augen, die vor Entschlossenheit leuchteten.

Sie erkannte ihn sofort. Ihre Augen weiteten sich, die Tasse entglitt ihren Fingern und zersprang auf dem Boden.

„Oh, das ist meine Schuld“, sagte Kalecgos, der einstige Aspekt des blauen Drachenschwarms, rasch. Er machte eine Handbewegung, und der verschüttete Tee verschwand, während die Tasse sich wieder zusammensetzte und leer in Jainas Hand zurückkehrte.

„Danke“, brachte sie hervor, gefolgt von einem leicht schiefen Lächeln. „Da Ihr mich außerdem der Möglichkeit beraubt habt, mich auf gebührende Weise vorzustellen, lasst mich Euch wenigstens eine Tasse Tee anbieten.“

Er erwiderte das Lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. „Das wäre jetzt wirklich wohltuend, danke! Ich bedaure, dass wir keine Zeit für Formalitäten und Höflichkeiten haben. Aber es ist schön, Euch wiederzusehen, selbst unter diesen Umständen.“

Jaina schenkte ihnen beiden mit ruhiger Hand Tee ein – von dem anfänglichen Schock hatte sie sich in Sekundenschnelle erholt. Sie war Kalecgos bei der Bindungszeremonie von Go’el und Aggra begegnet und hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden, obwohl sie keine Zeit für eine längere Unterhaltung gehabt hatte. Nun hielt sie ihm die Tasse hin und sagte voller Aufrichtigkeit: „Lord Kalecgos vom blauen Drachenschwarm, ich kenne Eure noblen Taten und weiß, dass Ihr ein gutes Herz habt. Ihr seid in Theramore willkommen. Der Brief, den Ihr bei Euch hattet, enthielt eine Anweisung, Euch all die Hilfe zu gewährleisten, die ich anbieten kann, und genau das will ich tun.“

Sie nahm auf dem kleinen Sofa Platz und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen. Zu ihrer Überraschung wirkte dieses Wesen, das so mächtig und uralt war, beinahe … schüchtern, als es den Tee entgegennahm.

„Auch mir ist es eine Ehre, mit Euch zusammenzuarbeiten, Lady“, erklärte Kalecgos. „Euer Ruf ist weithin bekannt – und ich bewundere Euch schon seit langer Zeit. Euer Verständnis der Magie und die Besonnenheit, mit der Ihr diese Macht einsetzt – ebenso wie Eure, nun, sagen wir, weltlicheren Talente der Diplomatie und der Führung – dies alles gebietet Respekt.“

„Oh!“, machte Jaina. „Nun – danke! Aber so geschmeichelt ich mich auch fühle, ich bezweifle, dass Ihr den ganzen Weg von Nordrend gekommen seid, um Komplimente auszutauschen.“

Er seufzte und nahm einen Schluck Tee. „Unglücklicherweise habt Ihr recht. Lady …“

„Jaina, bitte! In meinem eigenen Zuhause gibt es keinen Grund für solche Förmlichkeiten.“

„Jaina …“ Als er wieder zu ihr aufblickte, lag keinerlei Freude mehr in seinen blauen Augen. „Wir sind in Gefahr. Wir alle.“

„Euer Schwarm?“

„Nein, nicht nur mein Volk. Jedes Wesen auf Azeroth.“

„Das kann doch nur eine Lüge sein.“ Kinndy stand in der Tür und blickte sie gleichermaßen verwirrt wie skeptisch an. „Oder zumindest eine Übertreibung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jedes einzelne Wesen auf Azeroth von den Schwierigkeiten in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, die sich der blaue Drachenschwarm eingehandelt hat.“

Ihr Haar sah zum Fürchten aus, und Jaina vermutete, dass sie es zu Zöpfen gebunden hatte, ohne es vorher überhaupt zu kämmen. Kalecgos schien ob der scharfen Zunge des kleinen Gnomenmädchens mehr amüsiert denn empört, und als er fragend zu Jaina hinüberblickte, erinnerte sich diese an Kinndys Behauptung, niemand nehme sie ernst. Sie war sicher, dass zumindest dieser blaue Drache schon bald lernen würde, sie ernst zu nehmen.