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„Vor deinen Pflichten kannst du nicht davonfliegen, ebenso wenig wie vor deinen Gedanken“, erklärte Kirygosa sanft, während sie die Hand ausstreckte und seinen Arm drückte. „Du bist unser Anführer, Kalec. Und du hast uns weise geführt. Arygos hätte den Schwarm vernichtet – und die ganze Welt mit ihm.“

Kalec zog die Augenbrauen zusammen, als er an die trostlose Vision dachte, die Ysera, der frühere Aspekt der grünen Drachen, vor nicht allzu langer Zeit mit ihnen geteilt hatte. Es war die Stunde des Zwielichts gewesen – eine, in der alles Leben ausgelöscht wurde, vom Gras und den Insekten über die Orcs, Elfen, Menschen und all die anderen Geschöpfe von Land und Meer bis hin zu den mächtigen Aspekten selbst, von denen jeder durch seine eigenen, einmaligen Fähigkeiten getötet wurde. Am Ende war sogar Todesschwinge gestorben, gemeinsam mit dem Rest von Azeroth – aufgespießt wie eine groteske Trophäe auf dem Turm des Wyrmruhtempels. Kalecgos erschauderte. Selbst jetzt noch verstörte ihn die Erinnerung an Yseras melodiöse, aber gebrochene Stimme, die erklungen war, während sie den anderen diese Vision gezeigt hatte.

„Ja, das hätte er“, brummte Kalec. Diesem Teil ihrer Aussage stimmte er zu. Einem Teil ihrer Aussage stimmte er zu, aber nicht allem.

Ihre blauen Augen suchten seinen Blick. „Lieber Kalec“, sagte sie, „du warst schon immer … anders.“

Trotz seiner düsteren Stimmung flackerte kurz ein wenig Heiterkeit in ihm auf, und er verzerrte seine attraktiven Halbelfenzüge zu einer Grimasse. Kirygosa lachte. „Genau das meine ich.“

„Es ist nicht immer gut, anders zu sein“, entgegnete er.

„Aber es ist deine Natur, und weil du anders als die anderen bist, hat dich der Schwarm auserwählt.“

Sein Frohmut schmolz dahin, und als er sie ansah, war er wieder vollkommen ernst. „Aber glaubst du auch“, fragte er traurig, „dass sie mich jetzt noch immer auserwählen würden, meine liebe Kirygosa?“

Die Wahrheit auszusprechen war für Kirygosa schon immer eine der größten Tugenden gewesen. Sie erwiderte seinen Blick und suchte nach einer Antwort, die einerseits wahr, aber auch tröstlich war, doch sie schien keine finden zu können. Kalecs Herz wurde schwerer. Wenn ihm nicht einmal seine geliebte Freundin, seine Schwester im Geiste, ermutigende Worte anbieten konnte, dann hatte er mehr Grund zur Sorge, als ihm bislang klar gewesen war.

„Was ich glaube, ist …“

Er sollte nie erfahren, was sie dachte, denn in diesem Augenblick unterbrach ein plötzlicher, schrecklicher Laut ihre Unterhaltung – die verzweifelten und entsetzten Schreie der blauen Drachen. Über ein Dutzend von ihnen stob aus dem Nexus hervor und flog wild durcheinander. Einer von ihnen brach plötzlich von den anderen fort und raste gezielt auf die Plattform zu. Kalec sprang auf die Beine, während sämtliches Blut aus seinem Gesicht wich. Kiry stand neben ihm, eine Hand vor dem aufgerissenen Mund.

„Lord Kalecgos!“, schrie Narygos. „Wir sind am Ende! Alles ist verloren!“

„Was ist denn geschehen? Beruhige dich und sprich langsamer, mein Freund!“, sagte Kalec, obwohl die schiere Panik und das Grauen, das Narygos ausstrahlte, auch sein Herz schneller schlagen ließen. Der andere Drache war eigentlich nur selten aus der Ruhe zu bringen, und auch zu der Zeit, als Kalec und Arygos um das Amt des Aspekts gestritten hatten, war er einer der besonneneren und aufgeschlosseneren gewesen. Ihn so aufgewühlt zu sehen, erschreckte Kalecgos.

„Die Fokussierende Iris ist verschwunden!“

„Verschwunden? Wie meinst du das?“

„Man hat sie gestohlen!“

Kalec starrte ihn an. Ihm wurde ganz übel vor Grauen, und die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Die Fokussierende Iris war für die blauen Drachen nicht nur ein Gegenstand von ungeheurer arkaner Macht, sondern auch ein wertvoller Schatz, der sich schon länger im Besitz ihres Schwarmes befand, als sich irgendjemand erinnern konnte. Wie viele solcher Gegenstände war er an sich weder gut noch böse, aber er ließ sich sowohl für edle als auch für finstere Zwecke einsetzen – beides war in der Vergangenheit schon geschehen; so hatte man ihn benutzt, um die arkane Energie von Azeroth zu bündeln, aber ebenso, um eine schreckliche Kreatur zum Leben zu erwecken, die nie auch nur einen Atemzug hätte tun dürfen.

Der Gedanke, dass die Iris nun nicht mehr da war, sondern verschwunden, in den Händen eines anderen, der ihre Kräfte einsetzen könnte …

„Darum haben wir sie doch an einen anderen Ort gebracht“, murmelte Kalecgos. Noch keine zwei Tage war es her, da hatten er und ein paar andere vorgeschlagen, die Fokussierende Iris aus dem Auge der Ewigkeit fortzuschaffen und in einem geheimen Versteck unterzubringen – aus Angst, dass genau so etwas geschehen könnte. Er erinnerte sich noch, wie er den anderen blauen Drachen seine Begründung vorgetragen hatte: Viele unserer Geheimnisse sind bereits bekannt, und jeden Tag verlassen mehr Brüder und Schwestern den Schwarm. Einige dort draußen werden sich dadurch ermutigt sehen. Schon früher sind Fremde in den Nexus eingedrungen und haben die Fokussierende Iris für finstere Zwecke eingesetzt. Wir müssen sie bewachen … denn falls sich in einigen Teilen von Azeroth bereits herumgesprochen hat, dass sich dieses Artefakt im Nexus befindet, können wir davon ausgehen, dass es eines Tages wieder ungeschützt sein wird.

Nun war dieser Tag also gekommen, wenn auch nicht so, wie Kalec es vorausgesehen hatte. Die blauen Drachen hatten beschlossen, eine kleine Gruppe solle das Artefakt auf die Gefrorene See hinaustragen, auf dass es – wie er gehofft hatte – sicher in verzaubertem Eis eingeschlossen werde. Dort würde niemand es finden, ein Brocken gefrorenen Wassers, der in Wahrheit aber so viel mehr war.

Kalec kämpfte um seine Beherrschung. „Warum sagst du, dass sie gestohlen wurde?“ Bitte, flehte er, auch wenn er nicht wusste, an welche Macht diese Bitte gerichtet war, bitte, lass es nur ein Missverständnis sein!

„Wir haben nichts von Veragos oder den anderen gehört, und die Fokussierende Iris ist auch nicht dort, wo sie sein sollte.“

Die blauen Drachen, die im Verlauf der langen Jahrhunderte die meiste Zeit mit dem Artefakt verbracht hatten, waren besonders empfänglich für seine Aura, und Kalecgos hatte sie gebeten, der Reise der Iris mit ihren Sinnen zu folgen. Inzwischen hätte der Schatz längst gut geschützt am Grunde des Meeres liegen müssen, und diejenigen, die ihn dorthin gebracht hatten, hätten auch schon wieder zurück sein sollen. Natürlich gab es andere Erklärungen dafür, die längst nicht so düster waren. Dennoch wechselte Kalecgos sofort in seine Drachengestalt und flog schnell zum Nexus hinüber, dicht gefolgt von Kirygosa und Narygos.

Er wusste, dass diese anderen Möglichkeiten nichts als falsche Hoffnungen waren, wenn er auch nicht sagen konnte, warum er sich da so sicher war. Kalecgos leitete sein Volk erst seit ein paar Monaten, zunächst als Aspekt und nun als Anführer. Während dieser kurzen Zeit waren schon zwei der schlimmsten Katastrophen eingetreten, die dem blauen Drachenschwarm überhaupt widerfahren konnten.

Kalecgos landete im kalten, höhlenartigen Inneren des Nexus und wurde von einem vollkommenen Chaos begrüßt.

Alle schienen gleichzeitig aufeinander einzureden, und jede Faser ihrer riesigen, reptilienartigen Körper verströmte Angst und Zorn. Einige Drachen saßen indes zusammengekauert und seltsam still da, was Kalecgos noch mehr als das Geschrei alarmierte. Zugleich fiel ihm auf, wie viele Mitglieder des Schwarms schon fort sein mussten. Und die wenigen, die noch geblieben waren, wünschten sich nun ohne Zweifel, dass auch sie den Nexus verlassen hätten, bevor dieses Unheil über sie gekommen war.

Er behielt seine wahre Gestalt bei und rief den anderen zu, still zu sein, doch nur eine Handvoll gehorchte diesem Befehl, die anderen schrien weiterhin durcheinander.