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„Ich trauere sehr wohl um sie!“, kreischte Jaina. „Mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich vermag kaum noch zu atmen vor Trauer um sie, Kalec. Ich kann nicht mehr schlafen. Und wann immer ich an sie denke, sehe ich ihre Gesichter – und dann ihre Leichen. Die Horde muss zahlen!“

„Aber nicht durch deine Hand, Jaina, und auch nicht so.“ Es war nicht Kalec, der diese Worte aussprach, sondern Thrall, und ihre Augen huschten zu ihm hinüber. „Es gibt Gerechtigkeit, und es gibt Rache. Falls du den Unterschied zwischen beidem nicht erkennst, ist alles, was du tust, nur ein Verrat an denen, die dich geliebt haben.“

„Garrosh …“

„Garrosh ist ein Dieb und Feigling und Schlächter“, sagte Thrall mit ruhiger Stimme. „Und du tust jetzt genau das Gleiche, was er getan hat – bis hin zum Einsatz desselben Artefakts, das Theramore vernichtete. Ist es das, was du willst? Wirklich? Soll das das Erbe sein, das du deinem eigenen Volk hinterlässt?“

Jaina stolperte nach hinten, als hätte ein Faustschlag sie getroffen. Aber nein, er war ein Orc; er war genauso wie die anderen. Ihr Vater hatte recht gehabt. Er wollte sie nur verwirren. Heftig schüttelte sie den Kopf.

„Ich weiß, dass richtig ist, was ich tue!“, rief sie.

„Das dachte Arthas gewiss auch, als er jeden in Stratholme niedergemetzelt hat“, sagte Kalec. Jaina starrte ihn an, ungläubig und angewidert, doch er fuhr fort, als bemerkte er ihren Blick überhaupt nicht. „Aber zumindest war sein Herz nicht mit Hass gegen jene erfüllt, die er tötete. Thrall hat recht. Soll das wirklich dein Erbe sein, Jaina Prachtmeer? Willst du als der nächste Garrosh, der nächste Arthas in die Geschichte eingehen?“

Jainas Beine gaben nach, sie sackte in den Sand. Aber ihre Hand ruhte noch immer auf der Fokussierenden Iris. Ihre Gedanken, erfüllt von nebulöser Ungewissheit und Verzweiflung, überschlugen sich.

Arthas …

Ich kann nicht mit ansehen, wie du das tust.

Diese Worte hatte sie an ihn gerichtet, nachdem sie ihn angefleht hatte, er möge seine Entscheidung noch einmal überdenken, und anschließend war sie mit Uther davongeritten, weinend ob der Person, in die sich Arthas verwandelt hatte. Langsam, als wöge ihr Kopf eine ganze Tonne, drehte sie sich herum und blickte ihre Hand an, die sich gegen die Fokussierende Iris presste. Dass ein so simpler Gegenstand so viel Macht haben, so viel Leid anrichten konnte, dachte sie. Das Artefakt war benutzt worden, um die fünfköpfige Monstrosität Chromatus zum Leben zu erwecken, hatte sämtliche arkane Energie in Azeroth zum Nexus umgeleitet, und zuletzt hatte es eine Manabombe gespeist, mit der unschuldige junge Mädchen zu Staub verbrannt worden waren.

Um damit Orgrimmar auszulöschen …

Sie erinnerte sich daran, wie Arthas Antonidas verspottet hatte, bevor Archimonde Dalaran zerstörte, und dann sah sie wieder das Gesicht ihres alten Mentors vor sich, gebildet aus violettem Rauch: Dieses Buch ist nicht für unvorsichtige Hände oder neugierige Augen bestimmt. Wissen darf nicht verloren gehen, aber es darf auch nicht leichtfertig eingesetzt werden. Also halte deine Hand zurück – oder fahre fort, so du denn den Weg kennst!

Sie hatte so sehr nach Vergeltung gestrebt, dass sie die Worte als Einladung betrachtet hatte – doch es war keine Einladung gewesen, andernfalls hätte sie das magische Siegel nicht aufbrechen müssen.

Fahre fort – so du denn den Weg kennst!

Hatte sie den Weg gekannt? Nein, sie war verloren, irrte blind umher. Wenn überhaupt, war Antonidas’ flüchtige Erscheinung eine Warnung gewesen, kein Ausdruck der Zustimmung. Sie wusste, wie er reagieren würde, könnte er sehen, was sie gerade tun wollte, und dieses Wissen war wie ein Messer in ihrem Leib.

Die Hand auf der Fokussierenden Iris ballte sich zur Faust.

Langsam stand Jaina auf. Ihr tränenüberströmtes Gesicht wandte sich erst Kalec zu, dann Thrall.

„Nach dem, was er getan hat, kann Garrosh nur noch mein Feind sein – und ebenso die Horde, solange er ihr Kriegshäuptling ist. Ich habe Hunderte von Elementarwesen unter meinem Befehl, und ich werde sie auch einsetzen.“

Sowohl der blaue Drache als auch der Orc spannten ihre Körper an.

Jaina schluckte hart, und die nächsten Worte mussten sich erst einen Weg an dem Kloß in ihrem Hals vorbeibahnen. „Ich werde sie benutzen, um der Allianz zu helfen. Um meine Leute zu schützen. Ich werde nicht eine ganze Stadt vernichten, denn ich bin nicht Garrosh. Und ich werde auch keine unbewaffneten Zivilisten ermorden, denn ich bin nicht Arthas. Ich bin mein eigener Herr.“

Nach diesen Worten brach die Flutwelle auseinander. Sie war nicht länger eine hoch aufragende Mauer aus Wasser, sondern bestand wieder aus Hunderten einzelner Wasserelementare, deren Körper in der Strömung auf und abhüpften, während sie auf Jainas Befehle warteten.

„Du hast jedes Recht, Krieg gegen die Horde zu führen, Jaina“, erklärte Thrall. „Aber das Blut, das von nun an an deinen Händen kleben wird, wird das von Soldaten sein, nicht das von Kindern. Bald schon wird dein Herz froh sein, dass du diese Entscheidung getroffen hast.“

„Du kennst mein Herz nicht mehr, Thrall“, entgegnete sie. „Ich bin keine Schlächterin, aber ich werde auch nicht länger um jeden Preis nach Frieden streben. Die Horde, die du nicht länger anführst, ist eine Gefahr, und wir müssen ihr die Stirn bieten, wo immer sie sich zeigt. Wir müssen sie besiegen. Vielleicht kann es danach Frieden geben – aber auf keinen Fall vorher.“

Trotz dem, was sie über ihr Herz gesagt hatte, spürte sie einen schmerzhaften Stich, als sie seinen reuevollen Gesichtsausdruck bemerkte. Die Personen, die in Theramore und der Feste Nordwacht das Leben verloren hatten, waren nicht die einzigen Opfer dieses Feldzuges. Auch ihre Freundschaft, die so viele Jahre überdauert hatte, auf die sie so stolz gewesen waren und die sie so behutsam gepflegt hatten, hatte den Angriff der Horde nicht überlebt. Es würde viele, viele Jahre dauern, bis sie Thrall wieder einen „Freund“ nennen konnte – falls überhaupt. Und das musste auch ihm klar sein.

„Der kommende Krieg wird Azeroth ebenso erschüttern wie der Kataklysmus, allerdings auf andere Weise“, meinte der Orc. „Und ich habe geschworen, diese Welt zu heilen. Darum will ich nun zum Mahlstrom zurückkehren. Lady Jaina, ich wünschte, wir könnten uns unter anderen Umständen voneinander verabschieden.“

„Ich ebenfalls“, sagte Jaina. Und meinte es ernst. „Aber dieser Wunsch ändert rein gar nichts.“

Thrall verbeugte sich tief, dann beschwor er einen Geisterwolf und stieg auf seinen Rücken. Kurz darauf verließen der Schamane und seine mystische Kreatur das Prügeleiland, und das Wasser des Ozeans trug ihr Gewicht, als wäre es fester Boden. Jaina und Kalec blickten ihnen schweigend nach, dann aber wandte sich die Herrscherin von Theramore zu dem Drachen um.

„Und was wirst du tun, Kalec vom blauen Drachenschwarm?“, fragte sie leise.

„Ich werde Lady Jaina hintragen, wohin auch immer sie möchte“, erklärte er.

„Ich muss dorthin, wo die Flotte der Allianz gerade gegen die Horde kämpft“, sagte sie. „Aber zuerst … möchte ich Orgrimmar sehen.“

26

Garrosh war sofort zur Messerfaust-Küste aufgebrochen, nachdem ihm der Troll seine Nachricht übermittelt hatte, und er war so schnell geritten, wie sein Terrorwolf ihn nur tragen konnte. So war er vor der Flotte der Allianz dort angekommen und hatte das Kommando über das Goblinschiff übernommen, das schon seit Urzeiten dort vor Anker zu liegen schien, sehr zur Überraschung, aber auch zur Freude des kleinen grünen Kapitäns. Mit Garrosh, Malkorok und vielen anderen an Bord brachen sie nun auf, dem Treffpunkt mit den anderen Schiffen entgegen, die von der Nordwacht herbeigesegelt waren.