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Ihre Augen waren in der Tat klarer geworden, sowohl im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinne. Die arkane Energie, die sie vergiftet hatte, war aus ihrem Körper gewichen, und auch wenn ihr Haar weiterhin weiß war, mit einer einzelnen blonden Strähne – diese Veränderung ließ sich nicht mehr rückgängig machen –, war doch das unheimliche weiße Glühen aus ihren Augen gewichen. Die arkane Restenergie, die Theramore eingehüllt hatte, war ebenfalls verschwunden. Nun war es für Jaina sicher geworden, in die zerstörte Stadt zurückzukehren. Zumindest für ihren Körper gab es hier keine Gefahr mehr.

Sie schritten den niedrigen Hügel zur Straße hinauf. Dort lagen keine Toten mehr. Offenbar hatten die Soldaten vor dem Abwurf der Bombe noch Zeit gehabt, die Leichen von Wymor und den anderen, die die Stadt am Meer so heldenhaft verteidigt hatten, hinter die Mauern zu bringen, wenngleich sie natürlich keine Gelegenheit mehr bekommen hatten, die Gefallenen zu begraben. Die Horde, so schien es, hatte ihre Toten ebenfalls fortgeschleppt. Der Himmel war zwar nicht länger von arkanem Glühen erfüllt, aber noch immer zerrissen. Hier und da gewährten sich windende Bögen von Energie den Blick in andere Welten, selbst jetzt noch, bei Tageslicht. Jaina starrte erst zu dem verwundeten Himmel hoch, dann auf das offene Stadttor. Sie musste schlucken.

Warme Finger schlossen sich um die ihren. Kalecs Berührung war zögerlich; er würde seine Hand sofort zurückziehen, falls sie das wollte. Doch sie wollte es nicht, und so gingen sie gemeinsam mit langsamen Schritten auf die Stadt der Toten zu.

Da sie schon einmal durch das verwüstete Theramore gewandelt war, wähnte sich Jaina zumindest bis zu einem gewissen Grad auf den Anblick vorbereitet. Doch obwohl ihr das Bild der Zerstörung nun vertraut war, war es doch noch immer von einer fürchterlichen Tragik. Ihr Herz brach entzwei, wieder und wieder und wieder, als sie die Gefallenen sah. Die Gebäude standen noch immer krumm und schief, durch das Arkane verformt und teilweise zum Einsturz gebracht. Doch zumindest der Boden schien allmählich zu heilen, denn die Erde, die sie unter den Sohlen ihrer Füße spürte, fühlte sich nicht mehr so schrecklich falsch an.

Jaina erschauderte, als sie einen kalten Lufthauch spürte, dann drehte sie sich fragend zu Kalecgos herum, der diesen Windstoß hervorgerufen hatte. Doch einen Moment später begriff sie – und eine Woge reuevoller Dankbarkeit durchströmte sie. Sowohl die Kälte als auch die Stärke des Windhauchs verhinderten, dass der Gestank der zahllosen Leichen sie überwältigte.

„W-wir können sie doch nicht einfach hier liegen lassen“, sagte Jaina, wohl wissend, dass ihre Stimme zitterte.

„Das werden wir auch nicht“, erwiderte Kalec rasch, in zuversichtlichem Tonfall. „Jetzt, da es sicher ist, können wir uns auf angemessene Weise von ihnen verabschieden.“ Er vermied ganz bewusst das Wort „Beerdigung“, denn von einigen Toten war gar nichts mehr übrig, was noch beerdigt werden konnte. Die Leichen, die bei ihrem ersten Besuch noch auf so widernatürliche Weise in der Luft geschwebt waren, hatten sich inzwischen der Schwerkraft ergeben und lagen auf dem Boden.

Die Gegenstände hingegen, die beim letzten Mal so willkürlich über die Trümmer verstreut gewesen und ihr deshalb ins Auge gestochen waren, waren nun größtenteils geplündert worden. Kurz spürte sie eine Woge des Zorns in sich hochkochen, doch dann erkaltete dieses Gefühl wieder. Sie hatten die Horde zurückgeschlagen, zumindest fürs Erste, und sie hatten Garrosh dabei eine vernichtende, sogar beschämende Niederlage beigebracht. Sie war nicht hier, um sich Hass und Zorn hinzugeben, sondern um eine Bestandsaufnahme zu machen und zu trauern.

Ihr Fuß rutschte aus, und sie verdrehte ihn sich ein wenig, als sie auf etwas trat, das teilweise im Boden begraben war, einen silbernen metallischen Gegenstand, auf dem sich nun das Sonnenlicht spiegelte. Jaina bückte sich, und als sie ihn aus dem Staub gezogen hatte, war sie verblüfft, und es überkam sie etwas, das schon beinahe Bewunderung nahekam. Als sie die ebenso wunderschöne wie uralte Waffe in die Höhe hob, fiel jeglicher Schmutz davon ab, als könnte etwas so Einfaches wie Erde sie gar nicht beflecken. Und einen Moment später sah sie wieder genauso neu aus wie an dem Tag, da man sie geschmiedet hatte. Voller Ehrfurcht hielt Jaina diese Waffe vor sich hin, doch sie glühte nicht in ihren Händen, wie sie es einst im Griff eines jungen Menschenprinzen und später auch in den Händen eines Taurenoberhäuptlings getan hatte.

„Der Furchtbrecher“, murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann es nicht fassen.“

„Eine beeindruckende Waffe“, bemerkte Kalec, während er den Streitkolben betrachtete. „Sie wurde von Zwergen geschmiedet, falls mich meine Augen nicht trügen.“

„Richtig“, erwiderte Jaina. „Magni Bronzebart gab ihn Anduin, und er wiederum hat ihn an – Baine Bluthuf übergeben.“

Kalec zog eine blaue Augenbraue nach oben. „Eines Tages musst du mir erzählen, wie es dazu kam.“

„Eines Tages“, sagte sie mit einem Nicken. Es gab keinen Grund hinzuzufügen: aber nicht heute. „Wie merkwürdig, dass ich ausgerechnet diese Waffe finde.“

„Das ist überhaupt nicht merkwürdig“, entgegnete Kalec. „Dies ist augenscheinlich ein magischer Streitkolben. Er wollte, dass du ihn findest.“

„Damit ich ihn Anduin zurückgeben kann“, meinte sie, und einmal mehr verspürte sie Trauer wegen der Entwicklung, die die Dinge genommen hatten. Einst hatten sie alle drei, die sie mit dieser Waffe verbunden waren, große Hoffnungen gehabt. Doch diese Hoffnungen waren zerbrochen – wie ein Schiff, das vom Sturm gegen eine Klippe geschleudert wurde. Garrosh Höllschrei war dieser Sturm gewesen, und die Klippe das schreckliche Grauen der Manabombe. „Jetzt habe ich zumindest einen Vorwand, mit ihm zu sprechen. Um … mich bei ihm zu entschuldigen. Ich war so harsch, als wir uns das letzte Mal trafen. Ich bedaure inzwischen vieles von dem, was ich gesagt habe. Ich … bedaure überhaupt vieles.“ Sie befestigte den prächtigen Streitkolben an ihrem Gürtel und nickte dann Kalec zu, dass sie bereit sei weiterzugehen.

Hand in Hand schritten sie zwischen den Trümmern dahin, schweigend und respektvoll, und dann zog sich Jainas Herz plötzlich noch einmal zusammen. Dort lag die Leiche der Leidenden, an derselben Stelle, wo sie ihre Leibwächterin zuvor schon gefunden hatte, und daneben Aubrey und Marcus …

„Ihre Leichen“, murmelte sie. „Sie wirken so …“

„Unverändert“, beendete Kalec den Satz für sie. „Die arkane Energie ist von ihnen gewichen.“ Das war alles, was er sagte; jedes weitere Wort wäre auch überflüssig gewesen. Jaina erkannte, dass die Haare der Leidenden nicht wie Glasfasern zerbrechen würden, falls sie sie streichelte. Dieses Mal nicht.

Unversehens traf sie eine neue Woge der Trauer. „Oh, Kalec … hätte ich Kinndy nicht berührt …“

„Wir werden ihre Überreste einsammeln, Jaina, vorsichtig und voller Liebe“, erklärte der Drache, bevor sie sich in Selbstbeschuldigungen ergehen konnte. „Nach dem, was ich gehört habe, haben ihre Eltern ohnehin schon einen besseren Weg gefunden, ihr Gedenken zu ehren.“

Plötzlich brach Jaina in sich zusammen. Ein scharfer Laut der Trauer und Hilflosigkeit brach aus ihrer Brust hervor, und bevor sie es überhaupt registrierte, hatte Kalecgos sie schon in die Arme genommen. Er hielt sie in dieser Umarmung, warm und fest, und während sie ihre Wange gegen seine Schulter presste und schluchzte, wiegte er sie sanft, als wäre sie ein kleines Kind. Aus dem gequälten Schluchzen wurde ein leises Weinen, und während sie ihrer Trauer freien Lauf ließ, hörte sie zweierlei: erst nur Kalecs beständigen Herzschlag in ihrem Ohr und dann seine Stimme … die ein leises, sanftes Lied sang.

Sie verstand die Sprache nicht, in der er sang, aber das musste sie auch gar nicht. Es war ein Klagelied, süß und traurig, um der Gefallenen zu gedenken, ein Lied, das vermutlich schon vor Kalecs Geburt gesungen worden war, ja, wahrscheinlich sogar schon, bevor es überhaupt Aspekte gegeben hatte. Denn so sicher, wie ein neuer Tag aus der Nacht geboren wurde, starb er später im Abendgrauen. Nichts war älter als der Tod … außer dem Leben.