Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben, — sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn sie noch unsre» Freunde «bleiben. — Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten» fertig».
Die Psychologen Frankreichs — und wo giebt es heute sonst noch Psychologen? — haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung — denn es wird langweilig — , ein anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in seinen besten Augenblicken — sogar auch als der Verstand seiner Opfer — : zum abermaligen Beweise dafür, dass der» Instinkt «unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie der» Regel «im Kampfe mit der» Ausnahme«: da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch heutlicher: treibt Vivisektion am» guten Menschen«, am» homo bonae voluntatis an euch!
Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden: — Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten des Geistes überhäuften ihnen gleich stehn: — sie kämpfen für die» Gleichheit Aller vor Gott «und brauchen beinahe dazu schon den Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des Atheismus. Wer ihnen sagte» eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen Menschen«, würde sie rasend machen: — ich werde mich hüten, es zu thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist, welche den» nur moralischen «Menschen nachgesagt werden, nachdem sie, einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten von Geschlechtern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich beauftragt weiss, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrecht zu erhalten, unter den Dingen selbst — und nicht nur unter Menschen.
Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des» Uninteressirten «muss man sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen, woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus, dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker, was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen Menschen gänzlich» uninteressant «scheint: — bemerkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie» désintéressé«und wundert sich, wie es möglich ist,»uninteressirt «zu handeln. Es hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (- vielleicht weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) — statt die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die» uninteressirte «Handlung eine sehr interessante und interessirte Handlung ist, vorausgesetzt…..»Und die Liebe?«— Wie! Sogar eine Handlung aus Liebe soll» unegoistisch «sein? Aber ihr Tölpel — ! Und das Lob des Aufopfernden?«— Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, — vielleicht etwas von sich für etwas von sich — dass er hier hingab, um dort mehr zu haben, vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als» mehr «zu fühlen. Aber dies ist ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so sehr hat hier bereits die Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss. Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt anthun.
Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu nützen. Genug, es fragt sich immer, wer er ist und wer Jener ist. An Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend, sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung mehr unter der Maske der Menschenfreundlichkeit — und gerade eine Verführung und Schädigung der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen, sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in's Gewissen schieben, — bis sie endlich mit einander darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen:»was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig«. — Also mein moralistischer Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will; ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack.
Wo heute Mitleiden gepredigt wird — und, recht gehört, wird jetzt keine andre Religion mehr gepredigt — möge der Psycholog seine Ohren aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, stöhnenden, ächten Laut von Selbst-Verachtung hören. Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa's, welche jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in einem nachdenklichen Briefe Galiani's an Madame d'Epinay urkundlich verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der Mensch der» modernen Ideen«, dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst unzufrieden: dies steht fest. Er leidet:. und seine Eitelkeit will, dass er nur» mit leidet«……
Der europäische Mischmensch — ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles in Allem — braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht auf den Leib passt, — er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns» nichts steht«—. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder» national «vorzuführen, in moribus et artibus: es kleidet nicht«! Aber der» Geist«, insbesondere der» historische Geist«, ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheiclass="underline" immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: — wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der» Kostüme«, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Pazodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, — vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!