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224.

Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der» divinatorische Instinkt «für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte): dieser historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, — erst das neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener Mischung in uns» moderne Seelen «aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos — : schliesslich ersieht sich» der Geist«, wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet» historischer Sinn «beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, — welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehen: alles dies stellt und stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigenthum sind oder ihre Beute werden könnten, — und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde: aber wir — nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeare's Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa auf der Chiaja Neapels: wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des» historischen Sinns«: wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu bestreiten, — wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend: — wir sind mit Alledem vielleicht nicht sehr» geschmackvoll«. Gestehen wir es uns schliesslich zu: was uns Menschen des» historischen Sinns «am schwersten zu fassen, zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde voreingenommen und fast feindlich findet, das ist gerade das Vollkommene und Letzthin — Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen Gegensatz zum guten Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb — , wo ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das Maass ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren — und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten — in Gefahr sind.

225.

Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der socialen» Noth«, mit der» Gesellschaft «und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft — sie nennen's» Freiheit«— trachten. Unser Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: — wir sehen, wie der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! — und es giebt Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren — , wo wir euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden. Ihr wollt womöglich — und es giebt kein tolleres» womöglich«— das Leiden abschaffen; und wir? — es scheint gerade, wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht — das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, — der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens — wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: — ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: — versteht ihr diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem» Geschöpf im Menschen «gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, — dem, was nothwendig leiden muss und leiden soll? Und unser Mitleid — begreift ihr's nicht, wem unser umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? — Mitleid also gegen Mitleid! — Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. —