Seneca nahm an den festlichen Umzügen und den Dankopfern teil, aber viele bemerkten, daß sein Schritt wankte und seine Hände zitterten. Er war nun schon fünfundsechzig Jahre alt und dick geworden. Sein Gesicht war aufgedunsen, und über den Backenknochen traten die Adern blau hervor. Nero wich ihm nach Möglichkeit aus und vermied es, mit ihm unter vier Augen zusammenzutreffen, weil er seine Vorwürfe fürchtete.
Eines Tages bat Seneca jedoch um eine offizielle Audienz. Nero versammelte vorsichtshalber seine Freunde um sich und hoffte, Seneca werde es nicht wagen, ihn im Beisein anderer zu tadeln. Dies war auch nicht seine Absicht gewesen. Er hielt vielmehr eine schöne Rede und pries Nero für seinen Weitblick und die Entschlossenheit, mit der er das Vaterland aus Gefahren errettet hatte, die seine, Senecas, eigenen, alt gewordenen Augen nicht mehr zu erkennen vermochten. Danach war Seneca für niemanden mehr zu sprechen. Er verabschiedete seine Ehrenwache und zog aufs Land, auf sein schönes Landgut an der Straße nach Praeneste. Als Grund gab er an, daß er leidend sei und sich im übrigen mit einem philosophischen Werk über die Freuden der Entsagung beschäftigen wolle. Er hielt angeblich strenge Diät und wich den Menschen aus, so daß er seine Reichtümer nicht zu genießen vermochte.
Mir wurde die unerwartete Ehre zuteil, mitten in einer Amtsperiode zum außerordentlichen Prätor ernannt zu werden. Das verdankte ich wahrscheinlich der Freundschaft Poppaeas, andrerseits aber auch der Tatsache, daß Tigellinus mich für willensschwach genug hielt. Nero, der unter der Stimmung litt, die durch die politischen Morde entstanden war, und sich zudem wegen Poppaeas Schwangerschaft beunruhigte, fühlte das Bedürfnis, sich als guter, tüchtiger Herrscher zu erweisen, und drang darauf, daß die vielen Prozesse, deren Akten sich im Prätorium türmten, endlich zu Ende gebracht wurden.
Sein Selbstvertrauen wurde übrigens bald durch ein seltsames Vorzeichen gestärkt. Während eines plötzlich losbrechenden Gewitters schlug ihm der Blitz einen goldenen Becher aus der Hand. Ich glaube allerdings nicht, daß der Blitz den Becher selbst getroffen, sondern eher, daß er so nahe bei Nero eingeschlagen hatte, daß diesem der Becher aus der Hand gefallen war. Man versuchte das Geschehnis geheimzuhalten, aber es wurde bald in der ganzen Stadt bekannt und selbstverständlich als böses Vorzeichen gedeutet.
Nach der uralten Blitzkunde der Etrusker ist jedoch ein Mensch, der vom Blitz getroffen wird, ohne getötet zu werden, heilig und den Göttern geweiht. Nero, der gern an Vorzeichen glaubte, betrachtete sich von dieser Stunde an als einen Heiligen und versuchte eine Zeitlang sogar dementsprechend aufzutreten, solange nämlich die aus politischen Gründen nötigen Morde sein überempfindliches Gewissen noch belasteten.
Als ich mein Amt antrat, stellte mir Tigellinus einen Raum zur Verfügung, der mit staubbedeckten Akten vollgestopft war. Sie betrafen allesamt Streitsachen, in denen sich im Ausland ansässige römische Bürger an den Kaiser gewandt hatten. Tigellinus legte einige davon zur Seite und sagte: »Ich habe ansehnliche Geschenke entgegennehmen müssen, um diese hier rascher zu erledigen. Bearbeite sie zuerst. Ich habe dich zu meinem Mitarbeiter erwählt, weil du eine gewisse Geschmeidigkeit in schwierigen Angelegenheiten bewiesen hast und weil du selbst so reich bist, daß deine Rechtschaffenheit nicht angezweifelt zu werden braucht. Die Ansichten, die bei deiner Ernennung im Senat geäußert wurden, waren übrigens nicht sehr schmeichelhaft. Sei also darauf bedacht, daß sich der Ruf unserer Rechtschaffenheit in allen Provinzen verbreitet. Wenn man dir Geschenke anbietet, so weigere dich, sie entgegenzunehmen. Du darfst aber durchblicken lassen, daß ich als Präfekt die Möglichkeit habe, eine Sache zu beschleunigen. Bedenke dabei jedoch, daß das endgültige Urteil in keinem Fall erkauft werden kann, denn es wird auf Grund unserer Vorträge von Nero selbst gefällt.«
Er wandte sich schon zum Gehen, als er noch hinzufügte: »Wir halten seit einigen Jahren einen jüdischen Zauberer gefangen. Er ist von der Schreibwut besessen und hat sogar Seneca mit seinen Briefen belästigt. Wir müssen ihn freilassen. Poppaea Sabina darf während ihrer Schwangerschaft nicht der Gefahr irgendeiner Zauberei ausgesetzt werden. Sie begünstigt diese Juden übrigens mehr als gut wäre. Unser Jude hat mehrere meiner Prätorianer Schon so verhext, daß sie nicht mehr zum Wachdienst zu gebrauchen sind.«
Meine Aufgabe war nicht so schwierig, wie ich zuerst geglaubt hatte. Die meisten Prozesse stammten noch aus Burrus’ Zeiten und waren von einem kundigeren Juristen, als ich es bin, mit Anmerkungen versehen worden. Nach Agrippinas Tod war Nero Burrus aus dem Wege gegangen und hatte die Prozesse aufgeschoben, um eine allgemeine Unzufriedenheit wegen der Saumseligkeit des Gerichts und damit eine feindselige Stimmung gegen Burrus zu erzeugen.
Aus Neugier nahm ich mir zuerst die Akten vor, die den jüdischen Zauberer betrafen, und stellte zu meiner Verwunderung fest, daß es sich um meinen alten Bekannten Saulus aus Tarsos handelte. Er war angeklagt, den Tempel zu Jerusalem geschändet zu haben. Nach den Unterlagen war er festgenommen worden, als Felix noch Prokurator war.
Bei der Neubesetzung der Beamtenstellen nach Agrippinas Tod war Felix seines Amtes enthoben worden, weil er ein Bruder des Pallas war. Der neue Statthalter, Festus, hatte Paulus gebunden nach Rom bringen lassen, und ich sah nun, daß er tatsächlich seit ganzen zwei Jahren gefangensaß.
Er durfte jedoch in der Stadt wohnen, da er seine Bewachung selbst bezahlte. Unter den Dokumenten fand ich ein Gutachten Senecas, das seine Freilassung befürwortete. Ich hatte nicht gewußt, daß Saulus, oder vielmehr Paulus, die Mittel besaß, sich sogar an den Kaiser selbst zu wenden.
Binnen weniger Tage hatte ich einige Prozesse ausgesondert, die Nero Gelegenheit gaben, seine Milde und seinen Edelmut zu beweisen. Mit Paulus wollte ich zunächst selbst sprechen, denn ich kannte seinen Eifer und fürchtete, er könnte vor dem kaiserlichen Gericht den Fehler begehen, Neros Zeit mit unnötigem Gerede zu verschwenden. Seine Freilassung war ja ohnehin beschlossene Sache.
Paulus wohnte recht bequem in einigen Räumen, die er im Hause eines jüdischen Händlers gemietet hatte. Er war in den letzten Jahren merklich gealtert. Sein Gesicht war tief gefurcht, sein Scheitel noch kahler als zuvor. Er trug zwar die vorgeschriebenen Ketten, aber seine Prätorianerdoppelwache erlaubte ihm, Gäste zu empfangen und Briefe zu schreiben, wohin er wollte.
Bei ihm wohnten einige seiner Anhänger. Er hatte sogar einen eigenen Arzt, einen Juden aus Alexandria, der Lucas hieß. Paulus mußte recht wohlhabend sein, daß er sich seine Gefangenschaft so angenehm einrichten konnte und nicht in eine der stinkenden Gemeinschaftszellen des allgemeinen Gefängnisses gesteckt worden war. Das schlimmste aller Gefängnisse, die Mamertinischen Kerker, kam für ihn nicht in Frage, weil er kein Staatsverbrecher war.
In den Akten wurde er selbstverständlich als Saulus geführt, denn dies war vor dem Gesetz sein Name. Um ihn aber freundlich zu stimmen, nannte ich ihn Paulus. Er erkannte mich sofort wieder und erwiderte meinen Gruß so vertraulich, daß ich es für angebracht hielt, den Schreiber und die beiden Liktoren hinauszuschicken, denn ich wollte später bei der Verhandlung nicht der Befangenheit bezichtigt werden. »Deine Sache steht gut«, sagte ich zu ihm. »Sie wird in den nächsten Tagen verhandelt. Der Kaiser ist jetzt, vor der Geburt seines Erben, sehr milde gestimmt. Du solltest deine Zunge im Zaum halten, wenn du vor ihm stehst.«
Paulus lächelte mit der schmerzlichen Miene eines Mannes, der viel erduldet hat, und antwortete ergeben: »Ich habe den Auftrag, die gute Botschaft zu verkünden, ob nun die Stunde günstig ist oder nicht.«