»Aber«, fuhr er zögernd fort, »wenn du wirklich so neugierig bist – ich sehe, offen gestanden, keinen rechten Grund für einen solchen Wissensdrang, wo du doch statt dessen in Jerusalem ein lustiges Leben führen könntest –, so gibt es da einen Ratsherrn namens Nikodemus, der dir einiges sagen könnte. Er ist ein frommer Schriftforscher und sozusagen ein Mann der Erwartung, der Sehnsucht. An ihm ist nichts auszusetzen, obwohl er im Rat durch sein Eintreten für Jesus großen Unwillen erregt hat. Nur ist er für eine so hohe Stellung zu weltfremd. Darum wurde er auch zu der Nachtsitzung des Rates nicht beigezogen; es wäre ihm sehr nahegegangen, an dem Todesurteil gegen den Nazarener mitbeteiligt zu sein.«
»Von ihm habe ich schon gehört«, bemerkte ich. »War nicht er es, der euren König vom Kreuz nahm und ins Grab legte? Er soll auch hundert Pfund Spezereien für die Bestattung beigestellt haben.«
Das Wort ›König‹ ärgerte Alistarnos; aber er berichtigte mich wenigstens nicht, wie andere Juden es getan haben. Widerstrebend gab er zu: »Du bist ja ausgezeichnet unterrichtet. Mit diesem Vorgehen haben Nikodemus und Joseph von Arimathia zweifellos ihr Mißfallen an der Hinrichtung öffentlich bekunden wollen; aber man muß ihnen zugute halten, daß sie vor allem ihr eigenes Gewissen entlasten wollten. Joseph ist nur ein Ältester; Nikodemus ist jedoch einer der Lehrer Israels und hätte es besser wissen können. Indes soll man nie nach dem äußeren Schein die Absichten eines Menschen beurteilen. Vielleicht wollten die beiden durch die Grablegung des Galiläers eine Kampfgruppe innerhalb des Rates um sich scharen, um die Macht des Hohenpriesters einzuengen.«
Die Vorstellung schien ihm Vergnügen zu bereiten; denn er rief: »Und dagegen hätte ich nichts einzuwenden! Die Unverfrorenheit des Kaiphas beginnt schon unseren Erwerb zu schädigen. Den gesamten Handel mit Opfertieren und auch den Geldwechsel im Tempel hat er seinen unzähligen Verwandten zugeschanzt. Du wirst es kaum glauben, aber nicht einmal ich habe im Tempelvorhof einen Wechslertisch, wenigstens nicht unter eigenem Namen. Mag also sein, daß Nikodemus, bei all seiner Arglosigkeit, ein wirklich guter Politiker ist. Aus dem Tempelvorhof einen lärmenden Marktplatz zu machen, ist unziemlich, ja gesetzwidrig. Und beim Geldwechsel sollte ein gewisses Maß an Wettbewerb zugelassen bleiben. Alle frommen Pilger würden daraus Nutzen ziehen, wenn ihnen nicht von Kaiphas ein Zwangskurs für den Tempelschekel aufgenötigt würde.«
Die Geschäftsangelegenheiten des Bankiers interessierten mich nicht. Ich sagte: »Mit Nikodemus würde ich gerne zusammenkommen. Aber er dürfte kaum geneigt sein, mich, einen Römer, zu empfangen.«
»Im Gegenteil, teurer Freund!« rief Aristainos. »Römer zu sein ist bei ihm nur eine Empfehlung. Ein jüdischer Gelehrter rechnet es sich zur Ehre an, wenn ein römischer Bürger unseren Glauben kennenzulernen wünscht. Du mußt dich bloß für die Eingottlehre höchst interessiert zeigen. Das öffnet dir Tür und Tor und verpflichtet dich zu nichts. Wenn du willst, führe ich dich gern bei Nikodemus ein.«
Wir kamen überein, daß er meinen Besuch ankündigen würde. Am nächsten Abend sollte ich ohne weiteres nach Einbruch der Dämmerung bei Nikodemus vorsprechen. Ich hob etwas Geld ab, beließ aber den größten Teil meines Guthabens bei Aristainos. Er wollte mir unbedingt einen seiner Bedienten aufdrängen, der ein erfahrener Fremdenführer sei und mir zu allen geheimen Vergnügungen Jerusalems Zutritt verschaffen könne. Aber ich deutete an, nach dem ausschweifenden Winter in Alexandria hätte ich ein bestimmtes Gelübde abgelegt. Er nahm das für bare Münze, bewunderte meine Willenskraft, bedauerte jedoch zugleich, daß mir dadurch vielerlei entgehen werde.
Wir schieden wie Freunde. Er begleitete mich bis zum Haustor und hätte mir einen Vorläufer mitgegeben, der mir den Weg durch die Stadt bahnen sollte; aber ich wünschte keine unnütze Aufmerksamkeit zu erregen. Nochmals versicherte Aristainos mir, ich könne, wenn ich in Schwierigkeiten geraten sollte, jederzeit zu ihm kommen. Fraglos ist er der umgänglichste Jude, den ich bisher kennengelernt habe. Trotzdem konnte ich seine Freundschaftlichkeit nicht rückhaltlos erwidern. Seine Art, die Dinge zu sehen, war so unpersönlich und nüchtern, daß mich fröstelte und mein Mißtrauen von neuem erwachte; daraus entsprang wohl eine gewisse Widerborstigkeit in mir.
Als ich in die Burg zurückkam, erfuhr ich, daß Claudia Procula einigemal nach mir geschickt hatte. Ich begab mich eilends in ihre Turmgemächer. Sie war schon zu Bett gegangen, kam aber, in ein leichtes Seidengewand gehüllt und einen Überwurf um die Schultern, von ihrer Kammerfrau begleitet, heraus, um mit mir zu reden. In ihren Augen funkelte es beängstigend, und die Linien ihres blassen Gesichts waren wie verstrichen. Allem Anschein nach war sie in einer Art Verzückung befangen.
Sie faßte mit jeder Hand eine meiner Hände und rief: »Marcus, Marcus, er ist von den Toten auferstanden! Dieser Judenkönig ist auferstanden!«
Unwillig fragte ich sie: »Hat der Prokonsul dir nicht erzählt, daß seine Jünger in der Nacht seinen Leichnam aus dem Grab gestohlen haben? Darüber gibt es ein amtliches, von sechs Legionären beglaubigtes Protokoll.«
Claudia Procula stampfte mit dem Fuß auf und schrie: »Meinst du, daß Pontius an etwas anderes glaubt als an seinen Geldbeutel und den eigenen Vorteil? Aber ich habe Freundinnen in Jerusalem. Hast du nicht davon gehört, daß eine seiner Anhängerinnen beim ersten Morgengrauen zum Grab gekommen ist – jene Frau, aus der er sieben böse Geister vertrieben hat? Die Gruft war leer. Nur ein Genius stand dort, in blendendweißem Kleid und mit einem Gesicht, flammend wie Feuer.«
»Da müssen wohl«, entgegnete ich schroff, »die Dämonen von neuem in diese Frau gefahren sein.« Und niedergeschlagen dachte ich: In welche Dinge habe ich mich da eingelassen? Ist meine Narrheit schon so weit gediehen, daß ich im Geiste mit faselnden Weibern einen Wettstreit aufnehme?
Claudia Procula war gekränkt und bitter enttäuscht. »Also auch du, Marcus!« schluchzte sie vorwurfsvoll. »Ich dachte, du wärest auf meiner Seite, nachdem du, wie ich erfuhr, selbst in der Grabkammer warst und sie leer gefunden hast. Glaubst du dem Statthalter und seinen bestechlichen Soldaten mehr als dem eigenen Augenschein?«
Mir wurde weich ums Herz, denn während sie weinte, breitete sich über ihr entzücktes Gesicht ein seltsames Leuchten. Gerne hätte ich sie getröstet; aber ich erkannte, daß es gefährlich gewesen wäre, dieser überschwenglichen Frau anzuvertrauen, was ich gesehen hatte. Nach meinem Empfinden kam das aufgeregte Weibergerede in Jerusalem über Auferstehung, Visionen und Genien bloß dem jüdischen Hohen Rat zupaß, weil es alles nur noch unglaubwürdiger machte, als es schon war.
»Nimm dir meine Worte nicht so zu Herzen!« bat ich. »Du weißt, daß ich etwas zu viel von den Lehren der Kyniker in mich aufgenommen habe. Daher kann ich mich schwer entschließen, an übernatürliche Dinge zu glauben. Andererseits liegt es mir fern, etwas von vornherein als unmöglich hinzustellen. Wer ist also deine Zeugin und wie heißt sie?«
»Sie heißt Maria«, erwiderte Claudia, eifrig bemüht, mich zu überzeugen. »Das ist ein sehr häufiger Name bei den Juden; aber diese Maria führt den Beinamen Magdalena, weil sie aus Magdala am See Genezareth stammt. Sie ist eine wohlhabende Dame und eine weithin bekannte Taubenzüchterin. Ihre Taubenschläge bringen jedes Jahr Tausende untadeliger Tiere hervor, für die Tempelopfer. Als die Dämonen von ihr Besitz ergriffen, kam sie allerdings in Verruf; nach der Heilung durch Jesus von Nazareth änderte sie sich aber von Grund aus und folgte dem Lehrer überallhin auf seinen Wanderungen. Ich habe sie kennengelernt, als ich eine hochgestellte jüdische Dame meines Bekanntenkreises besuchte, und ihre Erzählungen über den Lehrer haben tiefen Eindruck auf mich gemacht.«