Выбрать главу

Die jüdischen Gelehrten in Alexandria sind Freidenker, und zweifellos gibt es unter ihnen echte Philosophen, die sogar bereit sind, sich mit einem Fremden an einen Tisch zu setzen. Mit einem von ihnen bin ich gut Freund geworden, und wir haben gemeinsam ungewässerten Wein getrunken. Solche Dinge gibt es in Alexandria! Als er bezecht war, sprach er sehr begeistert vom Messias und von der künftigen Weltherrschaft der Juden.

Zum Beweis dafür, wie buchstäblich die Juden, auch ihre Führer, an die Messias-Weissagung glauben, erzählte er mir, ihr großer König Herodes habe ein paar Jahre vor seinem Tode in einer ganzen Ortschaft alle kürzlich geborenen Knaben hinmorden lassen. In diese Ortschaft waren nämlich, einem Sterne folgend, Weise aus Chaldäa gereist und hatten dann dem Herodes ganz harmlos berichtet, dort sei der künftige König zur Welt gekommen. Herodes aber wünschte, den Thron für seine eigene Familie zu sichern. Diese Geschichte deutet darauf hin, daß er so mißtrauisch war wie ein gewisser anderer Herrscher, der sich als alter Mann auf eine Insel zurückzog.

Du wirst verstehen, Tullia, daß die grausige Mär mir im Kopf herumgegangen ist. Aus dem Todesjahr des Herodes kann man leicht zurückrechnen, daß die Metzelei gerade zur Zeit der Begegnung von Saturn und Jupiter stattgefunden haben muß. Der Vorfall beweist, daß die Sternkonstellation unter den Juden und den Weisen des Ostens ebensoviel Aufsehen erregte wie in Rhodos und Rom.

Ich fragte: »Glaubst du also, daß der künftige Messias schon in der Wiege umgebracht wurde?«

Der jüdische Gelehrte mit seinem weinfeuchten Bart lachte und sagte: »Wer könnte den Messias töten? Herodes war krank und ein Wirrkopf.«

Immerhin erschrak er ein wenig und fügte, um sich blickend, hinzu: »Du darfst aber nicht meinen, daß damals wirklich der Messias zur Welt kam. Ein Zeitpunkt dafür ist in der Prophezeiung nirgends angegeben. Unterdessen hatten wir bestimmt schon etwas von ihm gehört. Übrigens taucht in jeder Generation irgendein falscher Messias auf und stiftet in Jerusalem unter den einfältigen Leuten Unfrieden.«

Doch der von mir aufgeworfene Gedanke ließ ihn nicht los, und als wir noch mehr Wein getrunken hatten, sagte er beziehungsvolclass="underline" »In jenen Tagen sind aus Jerusalem und anderen Orten viele Menschen hierher nach Ägypten geflohen. Manche blieben, die meisten aber gingen nach dem Tode des Herodes wieder heim.«

»Zielst du darauf ab«, fragte ich, »daß der Messias vielleicht doch zur Welt gekommen ist und vor Herodes nach Ägypten in Sicherheit gebracht wurde?«

Er antwortete: »Ich bin ein Sadduzäer.« Damit wollte er andeuten, er sei ein Mann von Welt und fühle sich an die überlieferten Bräuche der Juden nicht allzusehr gebunden.

»Deshalb betrachte ich die Dinge kritisch«, fuhr er fort. »Ich glaube auch, im Gegensatz zu den Pharisäern, nicht an die Unsterblichkeit der Seele. Wenn der Mensch stirbt, welkt er hin und hat keinen Bestand. So steht es geschrieben. Da wir nur dieses eine Mal auf der Erde leben, ist es bloß vernünftig, dem Dasein einiges Vergnügen abzugewinnen. Unsere großen Könige haben sich nichts versagt; ein Übermaß an Lebensgenuß hat allerdings schließlich des weisen Salomo Gemüt verdüstert. Indes gibt es auch bei dem gebildetsten Menschen einen Winkel des Herzens, wo sich noch kindliche Frömmigkeit birgt. Und besonders wenn man – was ja zu den verbotenen Genüssen gehört – ungewässerten Wein getrunken hat, glaubt man Sachen, die man bei klarem Kopf ablehnen würde. Darum will ich dir jetzt eine Geschichte erzählen, die ich gehört habe, als ich zwölf Jahre alt und ein junger Mann geworden war.«

Er begann: »Ah unserem Ruhetag darf niemand körperliche Arbeit verrichten. Nun war zur Zeit des Königs Herodes auch aus Bethlehem im Lande Judäa ein alter Handwerker geflohen, mit seinem jungen Weibe und einem neugeborenen Kind. In Ägypten, mitten in den Balsamgärten, hatten sie sich niedergelassen und wohnten dort. Durch seiner Hände Arbeit erhielt der Mann sich und seine Familie, und niemand konnte den Leuten etwas Übles nachsagen. Eines Sabbats aber ertappten einige Juden des Dorfes den drei Jahre alten Flüchtlingsjungen dabei, wie er Tonfiguren von Schwalben formte und brannte. Die Männer holten die Mutter herbei, weil er gegen das Gesetz der Sabbatruhe verstoße. Aber der Knabe blies die tönernen Gebilde an, und sie flogen auf und davon wie lebendige Vögel. Bald darauf verließ die Familie die Ortschaft.«

»Erwartest du von mir, daß ich ein solches Ammenmärchen glaube?« fragte ich verwundert; ich hatte meinen Bekannten für einen aufgeklärten Menschen gehalten.

Er schüttelte den Kopf und starrte mit seinen gewölbten Judenaugen vor sich hin. Er war ein stattlicher, selbstbewußter Mann, so wie viele Juden aus alten Geschlechtern. »Keineswegs«, versicherte er mir. »Nur beweist meiner Meinung nach die Entstehung einer solchen Fabel, daß zu Herodes' Zeiten eine besonders fromme oder aber, bei aller äußerlichen Bescheidenheit, unter den Leuten besonders angesehene Familie hierher nach Ägypten geflohen ist. Wenn man eine vernunftgemäße Erklärung für den Ursprung einer derartigen Legende wünscht, so mag vielleicht die Mutter des kleinen Sabbatschänders ihn mit so treffenden, so beflügelten Worten aus den heiligen Schriften verteidigt haben, daß die Ankläger zum Schweigen gebracht wurden. Aber die richtige Deutung kann derart verwickelt sein, daß sie in Vergessenheit geriet. Mit Hilfe unserer Schriften läßt sich ja alles Erdenkliche beweisen. Und später, als die Familie wieder verschwand – ebenso unbemerkt, wie sie aus Judäa gekommen war –, wurde die Begebenheit auf eine Weise umgemodelt, daß sie auch für die Kinder verständlich wurde.«

Er schloß mit den Worten: »Ach, hätte ich bloß noch das Gemüt eines Kindes und könnte die Worte der Schrift nach Kinderart glauben! So zu leben wäre leichter, als an der Grenzscheide zweier Welten dahinzutorkeln. Ein Grieche kann ich nie werden, und ein Sohn Abrahams bin ich in meinem Herzen nicht mehr.«

Am nächsten Tag tat mir der Kopf weh, und ich fühlte mich elend, nicht zum erstenmal in Alexandria. Ich verbrachte den Tag in den Thermen. Nach Bad, Massage, Gymnastik und einem guten Essen überkam mich ein traumhafter Zustand. Die Außenwelt schien sich von mir zurückgezogen zu haben, und mein eigener Körper wurde schattenhaft. Dieses Gefühl kenne ich sehr gut; es rührt von meinen Ahnen her. Nicht umsonst führe ich den Namen Mezentius, der in mythische Vorzeit zurückweist. In einem solchen Zustand ist man überaus empfänglich für Vorzeichen, obwohl es auch da außerordentlich schwer ist, Wirklichkeit und Täuschung zu unterscheiden.

Als ich aus der kühlen Säulenhalle der Thermen trat, überfiel mich die Hitze der Straße, und die Abendsonne gleißte mir in die Augen wie ein Blitz. Meine merkwürdige Gemütsverfassung hielt an. Ich ging durch die menschenerfüllten Straßen, ohne auf den Weg zu achten. Als ich so, wie geistesabwesend, im Sonnenlicht dahinwanderte, faßte mich ein Fremdenführer, der in mir einen Vergnügungsreisenden vermutete, am Mantel und begann mir zungenfertig den Besuch von Sehenswürdigkeiten zu empfehlen: die Freudenhäuser in Kanopos, den Leuchtturm auf der Insel Pharos, den Apis-Stier in seinem Tempel. Der Mann war hartnäckig, und ich wurde seinen Wortschwall erst los, als ein lautes Rufen ihn unterbrach. Dann wies der Mann mit einem schmutzigen Finger auf den Schreienden und rief lachend: »Schau dir diesen Juden an!«

An der Ecke des. Gemüsemarktes stand ein in Felle gekleideter Mann, mit struppigem Bart und Kopfhaar, vom Fasten abgemagertem Gesicht und wundgelaufenen Füßen. Ständig wiederholte er laut auf aramäisch die gleiche eintönige Botschaft, und in seinem Gesicht rollten die Augen. Der Fremdenführer meinte: »Wahrscheinlich verstehst du nicht, was er sagt.«