Zögernd bekannte Nikodemus: »Ich habe von dieser Auferstehung gehört, weiß aber nicht, was ich davon halten soll. Gestern nacht haben sich die Jünger Jesu versammelt, hinter verschlossenen Türen, aus Furcht vor Verfolgung. Vielleicht kamen nicht alle, aber doch die meisten. Und sie hatten große Angst. Da soll der Gekreuzigte in ihrer Mitte erschienen sein und ihnen die Wunden an seinen Händen und Füßen und an seiner Seite gezeigt haben. Er hauchte auch jeden der Versammelten an. Dann verschwand er, wie er gekommen war. So wurde mir erzählt; aber ich kann es kaum glauben.«
Mich überlief in der Dunkelheit ein Schauder. »Sprich mir von seinem Reich!« bat ich. »Was lehrte er über sein Reich?«
Nikodemus berichtete mir: »Als er das erstemal zürn Passahfest nach Jerusalem kam und den Tempel reinigte, ging ich heimlich zu ihm. Ich werde nie vergessen, was er zu mir sagte, obwohl ich es damals nicht verstand und auch heute noch nicht verstehe. Er sagte, wenn jemand nicht von obenher wiedergeboren werde, könne er sein Reich nicht schauen.«
Sofort fielen mir die Lehren der Orphiker und der Pythagoräer und anderer Philosophen ein, wonach die Menschen innerhalb des irdischen Daseins seelisch wiedergeboren zu werden vermögen oder aber eine Kette immer neuer Existenzen durchlaufen und dabei, je nach ihrem Verhalten, sogar zu Tieren oder Pflanzen werden können. Enttäuschung übermannte mich; das war keine neue Lehre!
Aber Nikodemus fuhr unbeirrt for: »Ich widersprach ihm und fragte: ›Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er schon alt ist? Kann er denn zum zweitenmal in den Schoß seiner Mutter eingehen und neu zur Welt kommen?‹ Da erklärte Jesus, um mir einen Schlüssel zum Verständnis seiner Worte zu geben: ›Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in mein Reich eingehen.‹ Das mit dem Wasser verstand ich. Viele Menschen gehen ja zu der Bruderschaft in der Wüste, verharren dort im Gebet und werden nach einer Prüfungszeit in einem Wasserbecken untergetaucht. Auch Johannes ist aus der Wüste gekommen und hat die Leute mit Wasser getauft, bis Herodes Antipas ihn töten ließ.«
Ich unterbrach den Ratsherrn mit der Bemerkung: »In Ägypten wird man auf die gleiche Art in die Isis-Mysterien eingeweiht. Die Täuflinge schreiten furchtlos in einer finsteren Höhle in tiefes Wasser; aber starke Arme halten sie fest, so daß sie nicht ertrinken. Das ist ein sinnbildlicher Einweihungsritus und in keiner Weise neu.«
Nikodemus gab das zu. »Gewiß, gewiß. Die Wassertaufe ist nichts Neues. Aber ich fragte Jesus, was er mit dem ›aus Geist geboren werden‹ meinte. Und der Nazarener erwiderte – es sind genau seine Worte; ich habe sie mir eingeprägt: ›Was aus Fleisch geboren ist, ist Fleisch; was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es mit jedem, der aus dem Geiste geboren ist!‹«
Lange schwieg er und ich erwog seine Worte. Die Sterne Judäas funkelten am Himmel, und durch das Dunkel drang ein starker Geruch nach feuchtem Töpferton und nach Brennöfen. Auf geheimnisvolle Art ging mir diese Unterweisung zu Herzen, obwohl ich zum Verzweifeln genau wußte, daß mein Verstand sie nicht fassen konnte. Schließlich fragte ich leise: »Ist das alles, was du über sein Reich weißt?«
Nikodemus dachte nach und sagte dann: »Von seinen Jüngern habe ich gehört, daß er vor Beginn seiner Lehrtätigkeit in die Wüste hinausging. Dort wachte und betete er vierzig Tage und war allen Trugbildern und Erscheinungen preisgegeben, mit denen erdgebundene Mächte einen fastenden Menschen in die Irre locken. Der Versucher nahm ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Erde und ihre Herrlichkeit und versprach, er sollte über sie herrschen, wenn er vor ihm huldigend niederfalle und so der Aufgabe, die zu erfüllen er in die Welt gekommen war, untreu werde. Dieser Versuchung hielt Jesus stand. Dann kamen Engel und dienten ihm in der Wildnis. Er kehrte in die Menschenwelt zurück, begann zu lehren und Wunder zu wirken und scharte Jünger um sich. Das ist alles, was ich von seinem Reiche weiß. Es ist kein irdisches Reich. Darum war es unrecht, ja verbrecherisch, ihn zu verurteilen.«
Es ärgerte mich, daß er nun von Erscheinungen und Engeln sprach. Jeder irgendwie empfindsame Mensch, der lange genug gewacht und gefastet hat, kann Sinnestäuschungen haben; aber sie verschwinden, sobald er wieder ißt und trinkt und unter Leute kommt. Ich drang in Nikodemus: »Ja, welcher Art ist denn dieses Reich?«
Der Ratsherr stöhnte laut auf, hob die Hände und rief: »Woher soll ich das wissen? Ich habe nur das Brausen des Windes gehört. Als ich mit Jesus zusammentraf, glaubte ich, mit ihm sei das Reich auf die Erde herabgekommen. Er hat mir vielerlei gesagt, unter anderem auch, Gott habe den Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde. Aber nichts dergleichen geschah. Der Mann wurde kurzerhand ans Kreuz geschlagen und starb eines schmachvollen Todes. Ich kann es einfach nicht fassen. Nachdem er nun dahin ist, wird auch aus seinem Reiche nichts.«
Mein Herz sagte es anders; doch mein Verstand zwang mich, spöttisch zu bemerken: »Viel hast du mir da nicht zu bieten, Lehrer Israels! Nur ein Windesbrausen. Und du selber glaubst nicht bedingungslos daran, daß er auferstanden ist.«
»Ich bin kein Lehrer Israels mehr«, bekannte Nikodemus demütig. »Ich bin das geringste der Kinder Israels, innerlich niedergeschmettert und zutiefst verwundet. Aber etwas habe ich dir doch zu bieten. Wenn der Sämann die Saat gestreut hat, sorgt er sich nicht weiter um sie. Dennoch geht sie auf; Wind und Regen treiben sie, und während der Sämann schläft, sprießt das Getreide, bis es zum Schnitte reif ist. So ergeht es mir; so mag es auch mit dir werden, wenn du reinen Herzens bist. Ein Saatkorn wurde in mich gelegt, und es keimt auf. Auch in dich mag ein Saatkorn gelegt worden sein, um eines Tages der Frucht entgegenzureifen. Ich kann nichts tun als in Demut warten und eingestehen, wie wenig ich begreife und wie schwach mein Glaube ist.«
»Einfach zu warten, damit kann ich mich keinesfalls zufriedengeben«, widersprach ich ungeduldig. »Siehst du das nicht ein? Jetzt ist mir noch alles frisch im Gedächtnis; jeder Tag aber nimmt etwas davon mit sich in die Vergessenheit. Führe mich zu Jesu Jüngern! Ihnen muß er ja das Geheimnis seines Reiches auf verständliche Art enthüllt haben. In meinem Herzen lodert ein Feuer. Ich brenne darauf, zum Glauben zu finden, solange mir noch alles durch Zeugen verbürgt werden kann.«
Nikodemus seufzte tief und warnte: »Seine Jünger – die elf übriggebliebenen – sind verschreckt und bestürzt, und tiefe Enttäuschung hat sich ihrer bemächtigt. Es sind einfache Männer, noch jung und unverständig. Schon zu seinen Lebzeiten haben sie miteinander über seine Lehre gestritten; sie haben die hohen Posten in seinem Reich unter sich aufgeteilt und sind auch darüber in Zank geraten. Er konnte ihnen sagen, was er wollte, zum Schluß glaubten sie immer wieder an ein irdisches Reich.
Noch am letzten Abend vor seiner Gefangennahme hat er mit ihnen nach Art der Wüstenbruderschaft das Osterlamm gegessen und ihnen erklärt, er werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken, bis zu dem Tage, da er mit ihnen neu davon trinken werde in seinem Reich. Ich glaube, dieses Gelübde war auch der Grund, warum er den Wein, den die Frauen ihm vor der Kreuzigung als Betäubungstrank anboten, nach dem ersten Schluck zurückwies. Aber gerade seine Verheißung ermutigte die kindischeren unter den Jüngern zu der Hoffnung, er werde eine Legion Engel vom Himmel zu Hilfe rufen und ein Reich gründen, worin jeder Jünger über einen der Stämme Israels herrschen sollte. Daraus kannst du entnehmen, daß seine Lehren in ihnen noch nicht gereift waren. Es sind ungebildete Leute, die jetzt nicht wissen, was sie denken sollen, obwohl sie zu Augenzeugen aller seiner Beglaubigungszeichen geworden sind. Sie bangen um ihr Leben und halten sich versteckt. Wenn du jetzt mit ihnen zusammenkämest, würde ihr Reden dich sicherlich noch wirrer machen, als sie selbst es sind.«