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Das war mir unverständlich. »Warum hat er sich denn so einfältige Menschen als Jünger ausgesucht?« fragte ich ärgerlich. »Wenn er ein derart großer Wundertäter war, wie es heißt, hätte er sich seine Gefolgsleute wohl ebensogut aus den Kreisen der Gebildeten erwählen können.«

»Da rührst du an eine Wunde in mir«, gestand Nikodemus. »Du hast den Kernpunkt meiner enttäuschten Hoffnungen getroffen. Nicht die Weisen und Gelehrten hat er berufen, sondern die Armen, die Schlichten, die Beladenen. Einmal soll er zu einer großen Volksmenge geredet und ausdrücklich gesagt haben, gerade die im Geiste schlichten und armen Menschen seien selig, denn ihrer sei sein Reich. Den Gebildeten und Reichen erschwerte er alles zu sehr. Auch ich hätte einer seiner Jünger werden können, aber nur unter Verzicht auf meine Ratswürde – ja, und auch auf meine Familie! Meine Töpfereien hätte ich verkaufen und den Erlös unter die Armen verteilen müssen. So harte Bedingungen legte er auf und machte es dadurch Menschen wie uns unmöglich, ihm zu folgen. Indes waren ihm auch viele wohlhabende und einflußreiche Leute gut gesinnt und halfen ihm insgeheim. Er hatte Verbindungen und Nachrichtenquellen, von denen auch seine Jünger nichts wußten, weil er es nicht für nötig hielt, sie einzuweihen.«

»Ich würde aber doch gern mit einigen seiner vertrautesten Jünger zusammenkommen«, erklärte ich hartnäckig.

Nikodemus riet mir jedoch eindringlich davon ab. »Du bist«, meinte er, »kein römischer Spion, das sagt mir mein Gefühl. Aber die Jünger würden, verschreckt, wie sie sind, dir niemals trauen. Umgekehrt würdest du ihnen nicht glauben, sobald du siehst, was für einfache Leute sie sind. Im Gegenteil, wenn sie dir erzählen sollten, daß sie in einem verschlossenen Raum den auferstandenen Sohn Gottes sahen, würdest du an ihnen mehr denn je irre werden und dir denken, sie hätten diese ganze Geschichte erklügelt, in ihrer Enttäuschung, und um die letzten Trümmer ihrer zerbrochenen Selbstachtung zu verbergen.«

Der Ratsherr lachte freudlos und fuhr fort: »Zuerst wollten sie nicht einmal den Frauen glauben, die vom Grabe mit der Nachricht kamen, es sei leer. Einer von ihnen, der zufällig gestern abend nicht in ihrem Versteck weilte, hat sogar angezweifelt, was seine Gefährten ihm dann berichteten. Wie sollten sie da dir Vertrauen schenken?«

Ich tat mein Bestes, um ihn zu überreden, mir den Verbleib der Jünger zu verraten oder mich irgendwie anders mit ihnen in Verbindung zu bringen. Aber offenbar traute auch er mir nicht ganz; denn er weigerte sich rundweg. Wie ich merkte, begann es ihm leid zu tun, daß er mich empfangen hatte, und ich beeilte mich, ihn zu bitten: »Rate mir wenigstens, was ich tun soll! Ich kann es einfach nicht ertragen, die Hände in den Schoß zu legen und zu warten, bis sich zufällig etwas ergibt.«

Nochmals warnte er mich: »Der Sämann hat seine Saat ausgestreut. Sollte ein Samenkorn in dein Herz gefallen sein, so tätest du am klügsten, in Demut zu warten. Aber wenn du unbedingt willst, so reise nach Galiläa, wo Jesus selbst so oft umhergewandert ist, suche die Stillen im Lande auf und frage sie, was sie sich von seinen Lehren gemerkt haben. Oder sprich mit denen, die krank waren und durch ihn geheilt worden sind und überzeuge dich so selbst, daß niemand außer dem Sohne Gottes solche Wunder wirken könnte, wie er sie während seines Lebens vollbracht hat.«

Über diese Vorschläge war ich nicht gerade begeistert. »Wie soll ich die Stillen finden?« fragte ich. »Galiläa ist weit von hier, und ich bin Ausländer.«

Nikodemus zögerte; dann teilte er mir das Losungswort mit. »Frage auf deinen Wanderungen nach dem Weg!« sagte er. »Wenn aber jemand den Kopf schüttelt und antwortet: ›Es gibt viele Wege und mancherlei falsche Wegweiser, und ich will dich nicht in die Irre führen‹, so entgegne deinerseits: ›Es gibt nur einen einzigen Weg. Weise ihn mir, denn ich bin still und demütig im Herzen.‹ Daran wird man dich erkennen und wird dir vertrauen. Auch wenn du übrigens einen dieser Leute anzeigen solltest, würde ihm kaum etwas geschehen; denn sie halten die Gebote, entrichten ihre Abgaben und tun niemandem etwas zuleide.«

Ich sagte: »Für diesen Rat danke ich dir und will ihn mir einprägen. Aber auch in Jerusalem hat ja Jesus Wunder gewirkt. Ich möchte jetzt die Stadt noch nicht verlassen, da sich hier noch etwas ereignen könnte.«

Nikodemus wurde meiner allmählich überdrüssig. »Hier kannst du«, teilte er mir mit, »die einst übel beleumundete Frau finden, aus der er die bösen Geister vertrieben hat. Dann gibt es nicht weit von der Stadt ein Dorf namens Bethanien. Dort wohnen zwei Schwestern und ein Bruder, bei denen er sich wiederholt aufhielt. Einer der Schwestern erlaubte er, obwohl sie nur eine Frau ist, zu seinen Füßen zu sitzen und seinen Lehren zu lauschen. Den Bruder, der schon vier Tage tot im Grabe gelegen und dessen Leiche angeblich schon gerochen hat, hat er wieder zum Leben erweckt. Gehe hin und sprich mit ihm! Er heißt Lazarus. Das wird dir wohl an Wundertaten genügen. Man wird dich aufnehmen, wenn du ihnen einen Gruß von mir bestellst.«

»War dieser Lazarus wirklich schon tot?« fragte ich ungläubig.

»Gewiß, gewiß«, rief der Ratsherr aufgebracht. »Ich weiß ebensogut wie du, daß es Scheintote gibt. Es kommt vor, daß ein Totgeglaubter mitten während der Klagelieder und des Flötenspiels sich zum Entsetzen der Verwandten von der Bahre aufrichtet und blinzelnd umherschaut. Auch erst im Grabe sollen Menschen zu Bewußtsein gekommen, sich mit verzweifeltem Kratzen die Nägel von den Fingern gerissen und so lange geschrien haben, bis sie erstickten, weil sie den Stein nicht von der Öffnung wälzen konnten. Unser Gesetz ordnet die Bestattung am Todestage selbst an, und darum sind Irrtümer möglich. Ich bin mit allem irdischen Wissen hinreichend versehen und kann auf deine Erklärungsversuche verzichten.«

Er zeterte: »Welchen Sinn hat es denn, an die Dinge mit Vorurteilen und Zweifeln heranzutreten? Was erwartest du dir davon? Ich kann deine Gedanken lesen. Du hältst dir vor Augen, daß die Familie mit Jesus befreundet war. Wie leicht konnten diese Leute, um die Schwankenden zu überzeugen, eine List ersinnen und den ohnmächtigen Lazarus ins Grab legen, wo sie doch wußten, daß Jesus unterwegs zu ihnen war! Aber was hätten sie damit für sich gewonnen? Sieh dir doch am besten mit eigenen Augen diese drei Leute an, Lazarus und seine beiden Schwestern! Rede mit ihnen und entscheide dann selbst, ob sie die Wahrheit sprechen oder nur Lügen ausspinnen!«

Sicherlich hatte Nikodemus recht. Da ich nichts weiter aus ihm herausbekam, dankte ich ihm und fragte, was ich ihm für seine Auskünfte und Unterweisungen schulde. Er lehnte eine Bezahlung glattweg ab und sagte verächtlich: »Ich bin kein von der Truppe entlaufener Schauspieler, der sich seinen Unterhalt damit verdient, daß er Kindern das Lesen beibringt, wie es in Rom üblich sein soll. Die Lehrer Israels verkaufen ihr Wissen nicht für Geld. Jeder, der ein solcher Lehrer werden will, muß auch ein Handwerk erlernen, um von seiner Arbeit leben zu können. Deshalb bin ich Töpfer, wie mein Vater es vor mir war. Aber wenn du willst, gib das Geld den Armen! Das wird dir vielleicht Segen bringen.«

Er ging mit mir die Treppe hinunter und führte mich vom Hofe aus in seinen Empfangsraum, damit ich im Lichte der dort stehenden Lampe sehen könnte, daß er trotz seines Töpferberufes kein Niemand war. Wenigstens so viel menschliche Eitelkeit hatte er doch! Tatsächlich stand ich in einem Zimmer voll Kostbarkeiten, wie sie nur einem reichen Manne gehören konnten. Auch sein Mantel war aus bestem Tuche. Vor allem aber konnte ich jetzt im hellen Licht sein Gesicht sehen und betrachtete es genau. Seine Augen waren vom vielen Lesen kurzsichtig; im übrigen aber hatte der Kopf, mit seinen runden Formen, trotz des grauen Bartes etwas Kindliches. Die Hände verrieten allerdings, daß er schon viele Jahre selbst keinen Töpferton berührt hatte, obwohl er sich auf sein Handwerk noch immer gut verstehen mochte.