»Im Gegenteil«, erwiderte sie eifrig. »Ich statte eine Schuld ab, wenn ich jemandem den Weg weisen kann. Sollte aber das Gefühl einer Schuld dich bedrücken, so gib dein Geld den Armen und vergiß mich! Keinesfalls brauchst du mich hier bei der Mauernische zu suchen, denn hierher komme ich niemals mehr zurück.«
Wir schieden voneinander, ohne daß ich eine Ahnung hatte, wie die Frau aussah; nie hätte ich sie im Licht des Tages erkannt. Doch ihre frohe Stimme würde mir, denke ich, wenn ich sie wieder hörte, altvertraut klingen.
Ich ging zu meinem Wohnhaus, stieg über die Außentreppe auf das Dach und betrat mein Zimmer. Als ich die Erlebnisse dieses Abends bedachte, ärgerte ich mich über die Geheimniskrämerei der Juden. Dieser Nikodemus wußte bestimmt mehr, als er mir mitgeteilt hatte. Immer stärker bemächtigte sich meiner die Empfindung, daß man mich beobachtet und etwas von mir will.
Vielleicht, vermuten die Jünger des auferstandenen Königs oder aber Claudia Proculas jüdische Freunde, daß ich Dinge weiß, die ihnen unbekannt sind, wagen es aber nicht, mit mir, dem Fremdling, in Verbindung zu treten. Sie haben allen Grund, vorsichtig zu sein, da ihr Meister zum Tode verurteilt, mit dem Fluche belegt und gekreuzigt wurde.
Auch der Gärtner, den ich beim Grabe traf, verfolgt mich im Geiste. Er behauptete, mich zu kennen, und auch ich hätte ihn erkennen sollen. Aber ich gedenke nicht nochmals in den Garten zu gehen und den Mann zu suchen; denn ich bin völlig überzeugt davon, daß ich ihn dort nicht mehr fände.
5
Marcus an Tullia.
Ich will von meiner Wanderung nach Bethanien erzählen und davon, was mir dort widerfahren ist.
Mein Bart war im Wachsen. Da ich überdies ein schlichtes Untergewand und einen verschmutzten Reisemantel trug, glich ich wohl eher einem Straßenräuber als einem gesitteten Römer. Meine syrischen Hausleute hatten mich für die Reise mit Brot, Salzfisch und Sauerwein versorgt, und ich verließ die Stadt durch das Quelltor. An dem Teiche im Kidrontal vorbei folgte ich der Straße längs des ausgetrockneten Bachbettes. Auf der Höhe zur Linken erhob sich die Stadtmauer, und in den Felsböschungen zur Rechten waren viele Gräber. Altersknorrige Ölbäume wuchsen auf den Hängen, und ich überschritt eine luftige Hügelkuppe, die einen schattigen dunkelgrünen Kräutergarten trug.
Die Luft war frisch und warm, und kein Wölkchen stand am Himmel. Auf der Straße begegneten mir mit Reisig und Holzkohle beladene Esel und körbetragende Landleute. Frohen Herzens schritt ich aus und kam mir noch jung und stark vor. Das Vergnügen körperlicher Anstrengung verscheuchte die düsteren Gedanken aus meinem zweifelsüchtigen Geist, und ich fühlte mich aufgeschlossen und empfänglich. Vielleicht, so sagte ich mir, lebe ich wirklich in einer Zeit, da die Welt ungeahnter Dinge harrt und niemand recht weiß, was geschehen mag. In solchen Zeiten kann ein Außenstehender wie ich der Lösung eines Rätsels ebenso nahe kommen wie jene, die von Anfang an die Dinge miterlebt haben. Die Erde schien mir nicht mehr die alte, und auch der Himmel dünkte mich anders als bisher. Alles trat klarer zutage denn je.
Schon von weitem erblickte ich Bethanien. Die Vorderseiten der niedrigen Häuser waren für das Fest frisch getüncht worden und leuchteten durch die Bäume. Als ich mich dem Dorf näherte, sah ich einen Mann im Schatten eines Feigenbaumes sitzen. Er kauerte so reglos in seinem erdfarbenen Mantel, daß ich bei seinem Anblick erschrocken innehielt.
»Friede sei mit dir!« rief ich. »Ist das hier Bethanien?«
Er schaute mich an und die Augen in seinem schmächtigen Gesicht waren so glasig, daß ich ihn zuerst für blind hielt. Er war barhäuptig und hatte, obwohl sein etwas fahles Gesicht noch jugendlich war, schon weiße Haare.
»Friede sei auch mit dir!« grüßte er zurück. »Hast du den Weg verloren, Fremdling?«
»Es gibt viele Wege und mancherlei falsche Wegweiser«, sagte ich rasch, während Hoffnung in meinem Herzen aufstieg. »Vielleicht kannst du mir den richtigen Weg zeigen.«
»Hat Nikodemus dich geschickt?« fragte er unwirsch. »Nun denn, ich bin Lazarus. Was willst du von mir?«
Er sprach mit ungelenker Zunge, als fiele ihm das Reden schwer. Ich verließ die Straße und setzte mich an seine Seite, allerdings nicht ganz neben ihn. Der Schatten des Feigenbaumes tat mir wohl, und ich bemühte mich nach Kräften, den Mann nicht allzu auffällig anzustarren. Unter den Juden ist es nämlich Sitte, bei der Begegnung mit einem Fremden den Blick zu senken; ihm ins Gesicht zu schauen, gilt ihnen als unhöflich.
Lazarus mochte sich gewundert haben, daß ich nicht gleich zu reden anfing. Denn nachdem wir eine Weile Seite an Seite gesessen hatten – ich fächelte mir mit dem Mantelsaum Luft zu, weil ich vom Gehen in Schweiß geraten war –, sagte er: »Du weißt ja sicherlich, daß die Hohenpriester auch mich umbringen wollen. Wie du siehst, habe ich mich nicht versteckt, sondern lebe in meinem Hause und in meinem Dorfe. Mögen sie nur kommen und diesen meinen Körper töten, wenn sie können! Ich fürchte sie nicht, und dich ebensowenig. Mich kann niemand ums Leben bringen, weil ich nie sterben werde.«
Seine unheimlichen Worte und sein glasiger Blick bestürzten mich derart, daß mir vorkam, als hauchte sein Atem mich eiskalt an. Darum rief ich: »Bist du von Sinnen? Wie kann ein Mensch von sich behaupten, daß er nicht sterben werde?«
Er entgegnete: »Vielleicht bin ich kein Mensch mehr. Ich habe diesen Körper, gewiß. Ich esse und trinke und rede. Aber die Welt um mich her ist für mich nicht mehr wirklich. Wenn der Körper mir abhanden kommt, verliere ich nichts.«
An diesem Manne war etwas so Ungewöhnliches, daß ich seinen Worten glaubte. »Man hat mir erzählt«, bemerkte ich, »der als Judenkönig Gekreuzigte hätte dich von den Toten auferweckt. Stimmt das?«
In spöttischem Töne erwiderte er: »Was soll diese Frage? Hier sitze ich, und du siehst mich. Ich bin den Tod der Menschen gestorben und habe vier Tage lang, mit Tüchern umwickelt, im Grab gelegen, bis er kam, den Stein vom Grufteingang wegheben ließ und mir zurief: ›Lazarus, komm heraus!‹ So einfach war das.«
Aber er sprach freudlos darüber. Ja, in seiner Stimme lag Hohn. Als ich nichts erwiderte, fuhr er fort: »Schuld an allem sind meine Schwestern, und ich kann es ihnen nicht verzeihen, daß sie ihm immer wieder Botschaften schickten und ihn veranlaßten, seine Schritte wieder nach Judäa zu lenken. Ohne meine Krankheit und meinen Tod wäre er vielleicht überhaupt nicht hierher zurückgekommen und nicht in die Hände seiner Feinde gefallen. Ehe er mich aus dem Grabe rief, hat er über mich geweint.«
»Ich verstehe dich nicht«, widersprach ich ihm. »Statt sich zu freuen, daß er dich von den Toten auferweckt und dem Leben wiedergegeben hat, machst du deinen Schwestern Vorwürfe. Warum denn?«
Lazarus entgegnete: »Ich glaube nicht, daß jemand, der einmal das Sterben erfahren hat, jemals wieder froh sein kann. Jesus hätte mich nicht zu beweinen brauchen.« Dann fügte er hinzu: »Er muß wohl der Sohn Gottes gewesen sein, und derjenige, von dem geschrieben steht, er würde auf Erden erscheinen – obwohl ich davon nicht so fest überzeugt bin wie meine Schwestern. Ich sehe auch nicht ein, weshalb er mich derart geliebt haben sollte; er hatte doch keinen Grund dazu.«
Schweigend saßen wir und starrten vor uns hin. Ich wußte nicht, wonach ich mich sonst noch erkundigen, sollte, so unheimlich schien dieser Mann mir mit seiner Schroffheit und seinem Mißmut. Schließlich fragte ich behutsam: »Aber daß er der Messias war, glaubst du doch wohl?«
»Er ist mehr als der Messias«, erklärte Lazarus sehr entschieden. »Eben dies erschreckt mich an ihm. Er ist mehr als alles, was die Propheten je voraussagen konnten. Du hast ja wohl gehört, daß er am dritten Tage aus dem Grabe auferstanden ist?«
»Ja«, antwortete ich. »Deshalb habe ich dich aufgesucht – um mehr über ihn zu erfahren.«