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»Daß er auferstand ist nur natürlich, völlig klar und selbstverständlich«, meinte Lazarus. »Welche Macht hätte ihn im Grabe festzuhalten vermocht? Ich hatte es nicht nötig, mir, wie meine Schwestern es taten, die leere Gruft anzusehen. Ich glaube es auch so. Aber, Fremdling, von ganzem Herzen und sehnlicher als irgend etwas anderes hoffe ich, daß er sich mir in diesem Leben nicht mehr zeigen wird. Ich könnte seinen Anblick nicht ertragen. Nein, nein, in diesem Leben nicht mehr! Erst in seinem Reich!«

»Welche Bewandtnis hat es mit seinem Reich?« fragte ich wißbegierig.

Lazarus blickte mich unfreundlich an und sagte: »Warum stellst du mir nicht die ebenso naheliegende Frage, welche Bewandtnis es mit dem Reiche des Todes hat? Darüber kann ich dir Auskunft geben: der Tod ist hier und dort und überall. Daß weiß ich aus Erfahrung. Diese Welt ist das Reich des Todes; mein Körper gehört ihm an, ebenso wie deiner. Aber mit Jesus kam das Reich des Gottessohnes auf die Erde. So ist nun sein Reich hier und dort und überall.«

Dann jedoch senkte er den Kopf und fügte hinzu: »Aber glaube lieber nicht, was ich sage! Ich kann falsch verstanden haben. Alles ist so verwirrend.« Nach einer Weile meinte er: »Und laß dich durch meine Niedergeschlagenheit nicht entmutigen! Der Weg ist der richtige, dessen kann ich dich versichern. Wenn du ihn weiterverfolgst, gehst du nicht in die Irre.«

Er stand auf und schüttelte den Staub von seinem Mantel. »Wahrscheinlich wirst du gern meine beiden Schwestern kennenlernen wollen«, sagte er. »Ich bringe dich zu ihnen. Dann aber entferne ich mich, wenn du erlaubst. Mir fällt es schwer, mit Menschen beisammen zu sein.«

In Gesellschaft anderer mußte dieser Mann sich wohl tatsächlich eher tot als lebendig vorkommen. Dazu bewegte er sich nur mühsam, als hätte er seine Glieder nicht voll in seiner Gewalt. Ich glaube, er wäre mir auch gleich als seltsam aufgefallen, wenn ich ihn, ohne zu wissen, wer er ist, im Kreise anderer Menschen gesehen hätte.

Er führte mich zum Dorfe nicht auf dem kürzesten Wege, sondern ging vor mir her den Hang hinauf und ließ mich das Felsengrab sehen, aus dem Jesus von Nazareth ihn gerufen hatte. Seine und seiner Schwestern Heimstatt war ein stattlicher Bauernhof. Unterwegs zeigte Lazarus mir zwei Esel auf der Weide, einen Weinberg und Obstbäume und schließlich Geflügel, das in der Nähe des Hauses scharrte. Es war, als wollte er mir auf bäuerliche Art zu verstehen geben, daß er nicht ein hergelaufener Habenichts sei. Alles war so anheimelnd, friedlich und diesseitig, daß ich kaum den Gedanken festhalten konnte, neben jemandem zu gehen, der offenbar davon überzeugt war, von den Toten auferweckt worden zu sein.

Aber für mich ist dieser Punkt, das erkannte ich klar, nicht entscheidend. Worauf es mir ankommt, ist nur, ob Jesus von Nazareth wirklich Gottes Sohn und ob er auferstanden ist. Wenn das zutrifft, warum hätte er dann nicht vorher auch schon den Lazarus auferwecken können? So überlegte ich. Und mitten in diesen Gedankengängen fragte ich mich plötzlich verwundert, ob ich wirklich noch derselbe Marcus war, der in Rhodos studiert, in den heißen Straßen Roms das Nachtleben mitgemacht, dann in den Rosenhainen Baiaes die Gattin eines anderen unsinnig geliebt und schließlich in Alexandria die Zeit geteilt hatte zwischen der Erforschung von Prophezeiungen und nächtelangen Trinkgelagen in schlechter Gesellschaft.

Was war denn in mich gefahren? Welche jüdischen Hexerkünste hatten derart Macht über mich gewonnen, daß ich mit staubigem, schweißig riechendem Mantel in einem judäischen Dorf zwischen gackernden Hennen umherstolperte, auf der Suche nach Beweisen für eine Totenerweckung, nach Wundern und nach einem Gott, der als Mensch zur Welt kam, dann starb und wieder auferstand, auf daß die Welt gewandelt würde? Denn falls dies alles tatsächlich geschah, kann die Welt nicht bleiben, wie sie ist.

Von Lazarus begleitet, blickte ich in einen großen, halbdunklen, quergeteilten Raum, dessen untere Hälfte landwirtschaftliche Krüge und Säcke sowie eine Futterkrippe enthielt, während im oberen Teil einige Möbelstücke standen. Aber in dem Hause muß es noch sonstige Räume geben; denn Lazarus rief jetzt seine offenbar anderswo weilenden Schwestern herbei. Dann* führte er mich zu einer Steinbank vor dem Haus und lud mich ein, Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen.

Nun kamen die Schwestern heraus, bedeckten nach der Sitte ihre Gesichter und blickten zu Boden. Lazarus sagte: »Das ist meine Schwester Martha, und das ist Maria. Frage sie, was du willst!« Dann ging er und zeigte sich nicht mehr.

Nachdem ich die Frauen begrüßt hatte, sagte ich: »Ich möchte gern etwas über den Lehrer erfahren, der, soviel ich weiß, öfter hier gewohnt und sogar euren Bruder vom Tode erweckt hat.«

Die Frauen empfanden Scheu vor mir; sie hielten sich Zipfel ihrer Überwürfe vor den Mund und warfen einander verstohlene Blicke zu. Schließlich faßte die ältere, Martha, sich ein Herz und sprach: »Er war der Sohn Gottes. Wenn du willst, kann ich die Dorfleute zusammenrufen. Sie waren alle dabei, als er den Stein vom Grufteingang wegheben ließ und unseren Bruder mit lauter Stimme herausrief. Lazarus erschien, noch von Binden umwickelt und das Schweißtuch über dem Gesicht, so daß alle sprachlos dastanden und vor Schreck zitterten. Aber er war unser Bruder. So lösten wir die Grabtücher und sahen, daß er lebte. Später aß und trank er vor aller Augen, und die Leute starrten ihn mit offenen Mündern an.«

Maria sagte: »Im Dorfe wohnt auch ein Mann, der blind war und durch ihn das Augenlicht wiederbekam. Willst du mit ihm reden, damit du es glaubst?«

»Ich habe gehört, daß er Blinde sehen und Lahme gehen machte«, erwiderte ich. »Dafür gibt es so viele Zeugen, daß ich mit dem Mann im Dorfe nicht zu sprechen brauche. Lieber würde ich etwas über Jesu Reich erfahren. Was hat er darüber gelehrt?«

Maria erklärte mir: »Er hat im voraus gewußt, daß und wie er sterben mußte, obwohl wir seine Andeutungen damals nichtverstanden. Als er unseren Bruder auferweckt hatte, zog er sich in eine Gegend nahe der Wüste zurück, weil zu viele Menschen um ihn herumschwärmten. Aber sechs Tage vor Passah kam er wieder zu uns. Während er aß, habe ich ihm die Füße gesalbt und sie mit meinem eigenen Haar getrocknet, um ihm soviel Ehre zu erweisen, wie ich nur konnte. Da sagte er, ich hätte ihn für sein Begräbnis gesalbt; so sicher war er seines Todes. Aber warum alles gerade so geschah und weshalb er eines derart schrecklichen Todes sterben mußte, das können wir Schwestern beide nicht verstehen.«

Nun mischte Martha sich ein. »Wie sollten wir als Frauen das verstehen können? Manche meinen, alles sei geschehen, damit die Schriften erfüllt würden. Meinem Frauenverstand leuchtet nicht ein, wozu eine solche Erfüllung gut sein sollte. Jesus war doch der, der er war, durch die Art, wie er war, und hat das selber durch seine Taten genügend bewiesen. Aber vielleicht mußten die Schriften auf so grausame Weise erfüllt werden, damit auch die vernunftbegabten Männer bereitwilliger glauben. Die Vernunft ist ja den Männern gegeben worden; in dieser Beziehung wurden wir Frauen kärglich bedacht.«

»Aber was sagte er von sich selbst und seinem Reich?« drängte ich ungeduldig.

Martha meinte: »Erzähle du es ihm, Maria! Du hast ja den Reden Jesu zugehört. Ich kann eher Bescheid darüber geben, wie man den Brotteig säuert und Fleisch brät, Trauben liest und Feigenbäume pflegt. Etwas anderes habe ich nicht gelernt. Ich hatte auch keine Worte nötig, um überzeugt zu sein, daß er mehr war als ein Mensch.«

Maria wußte zuerst nicht recht, was sie berichten sollte. Dann begann sie: »So wie er hat nie jemand gesprochen. Er redete wie einer, dem Gewalt gegeben ist. Er hat gesagt, er sei als Licht in die Welt gekommen, auf daß niemand, der ihm folgt, in der Finsternis wandle.«

»Was bedeutet da Licht? Und was bedeutet Finsternis?« fragte ich.

Maria schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ach ja, wie kannst du das verstehen, ohne jemals selbst Zeuge seiner Belehrungen gewesen zu sein? Er hat gesagt: ›Wer mich gesehen hat, hat den gesehen, der mich gesandt hat.‹ Und auch: ›Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‹«