Endlich glaubte ich zu begreifen und rief: »Wenn ich also den Weg suche, so suche ich ihn.«
Maria nickte eifrig. Dann kauerte sie sich vor mich hin und wandte mir ohne weitere Scheu beflissen das Gesicht zu. Um mir die Dinge klarzumachen, fragte sie: »Was ist deiner Meinung nach schwieriger: jemandem zu sagen: ›Deine Sünden sind dir vergeben‹ oder jemanden, der vier Tage tot im Grabe gelegen hat, wiederzubeleben?«
Ich erwog diese Frage und erwiderte: »Beides ist gleich schwer und nach menschlichen Begriffen unmöglich. Wie kann ein Mensch einem anderen Menschen die Sünden vergeben? Und abgesehen davon, was ist denn Sünde? Im Grunde genommen will jede Philosophie den Menschen lehren, recht zu leben, sich jeder absichtlichen Schädigung anderer zu enthalten und zur Gelassenheit gegenüber dem Tode heranzureifen. Aber der Mensch kann Verfehlungen nicht ganz meiden. Er kann sie nur nachher als solche erkennen und sich vornehmen, das nächstemal weiser zu sein. Dabei vermag niemand ihm zu helfen. Jeder muß selbst verantworten, was er tut.«
Aber noch während ich so sprach, spürte ich schon, wie geringen Trost alle Philosophie zu geben vermag; war sie doch ebensowenig imstande, meinen Weltschmerz zu heilen wie die orphischen und ägyptischen Mysterien. Immer wieder hat dieser Weltschmerz, ohne erkennbaren Anlaß, mich von neuem gepackt, gleich einer Krankheit. Dann bot das Leben mir keine Freude mehr, und weder Wein noch irgendwelche körperlichen Genüsse brachten Linderung. Diese Qual hat mich ja dazu getrieben, in den alten Weissagungen nach irgendeinem Sinn für mein Dasein zu forschen. Diese Qual hat mich ja aus Alexandria verjagt und dahin gebracht, auf Judäas Straßen zu wandern.
Martha lächelte ungläubig und sagte: »Wenn du nicht weißt, was Sünde ist, brauchst du keinen Weg zu suchen, weil du in der Finsternis bleiben wirst. Niemand ist ohne Sünde; nicht einmal die Pharisäer sind es.«
Maria warf zornig ein: »Die sind am allerärgsten – gleich weiß übertünchten Grüften, außen hui, innen aber … allerhand anderes. Du bist ja ein merkwürdiger Mensch, Fremdling, daß du nicht einmal weißt, was Sünde ist.«
»Ihr Juden habt euer Gesetz«, rechtfertigte ich mich. »Von Kind auf müßt ihr eure Gebote lernen, und ihr merkt es, wenn ihr gegen sie verstoßen habt.«
»Jesus ist nicht gekommen, um uns Menschen zu richten«, erläuterte Maria in einem Töne, als hätte sie einen Schwachsinnigen vor sich. »Im Gegenteil, er ist gekommen, um uns von der Herrschaft des Gesetzes zu befreien, indem er zeigte, daß niemand ohne Sünde sein kann. Wenn bei uns jemand zu seinem Bruder auch nur ein übereiltes Wort spricht, so hat er sein Heil verwirkt. Jesus aber hat niemanden verurteilt. Sogar zu den größten Übeltätern konnte er sagen: ›Deine Sünden sind dir vergeben.‹ Mit einem hast du übrigens recht: Diese Worte sind etwas, was nie ein Mensch zu einem anderen Menschen sagen kann. Aber er sprach sie. Beweist nicht das schon, daß er mehr war als ein Mensch?«
Ich bemühte mich ehrlich zu verstehen; doch es gelang mir nicht. »Ich habe ihn selbst leiden und am Kreuze sterben sehen«, erklärte ich. »Er ist den Tod des Menschen gestorben. Schweiß und Schmutz rannen von ihm in seinem Todeskampf; Blut und Wasser flossen aus seiner Seite, als ein Legionär ihm mit der Lanze das Herz durchbohrte. Er ist nicht vom Kreuz gestiegen. Keine himmlischen Scharen kamen, um seine Peiniger zu bestrafen.«
Maria schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus. Martha blickte mich vorwurfsvoll an. Es war wirklich herzlos von mir, die beiden so lebhaft an das Leiden ihres Meisters zu erinnern. Doch ich wollte Klarheit.
Schließlich flüsterte Maria: »Er ist als Mensch zur Welt gekommen und hat als Mensch unter uns gewohnt. Aber er vollbrachte Taten, wie kein Irdischer sie bewirken kann. Er hat denen, die an ihn glaubten, die Sünden vergeben. Er ist sogar vom Tode auferstanden, so daß wir nicht mehr um ihn trauern müssen. Aber all das ist noch ein Rätsel, das wir nicht lösen können.«
»Du willst mich glauben machen, er sei Mensch und Gott zugleich gewesen«, rief ich. »Aber das ist unmöglich! Zur Not kann ich mir einen Gott vorstellen, der überall ist, in allem, was geschieht, und auch in jedem von uns. Aber Gott ist Gott, und Mensch ist Mensch.«
Maria erwiderte: »Vergebens bemühst du dich, mich in die Enge zu treiben. Ich weiß, was ich weiß, und ich fühle, was ich fühle. Auch du ahnst irgend etwas, ohne zu wissen, was es ist. Weshalb sonst wärest du zu uns gekommen und hättest nach dem Wege gefragt? Wie willst du begreifen, wenn selbst wir vor Rätseln stehen? Wir glauben nur, weil uns nichts anderes übrig bleibt.«
»Ihr glaubt, weil ihr ihn geliebt habt«, entgegnete ich unwirsch. »Sicherlich war er ein hervorragender Mensch und ein großer Lehrer. Für mich jedoch ist es schwer, ihn bloß nach dem zu lieben, was ich vom Hörensagen weiß.«
»Du bist guten Willens«, meinte Maria. »Sonst würde ich dich nicht anhören und dir nicht antworten. Darum will ich dir noch etwas zur Erklärung sagen. Wir sind unterwiesen worden, daß der Inhalt des ganzen Gesetzes in den folgenden beiden Geboten umschlossen liegt: ›Liebe Gott aus deinem ganzen Herzen‹, und ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹ In Jesus lieben wir Gott, der ihn uns als unseren Nächsten geschickt hat.«
Für mich war es eine ganz überraschende Vorstellung, daß man Gott lieben könnte oder sollte. Scheu, Angst und Furcht konnte ich verstehen, nicht aber Liebe. Ich schüttelte den Kopf. Das war eine Lehre, die über meine Begriffe ging. Außerdem schien es mir töricht, jeden Mitmenschen so zu lieben wie sich selbst, weil es doch gute und schlechte Menschen gibt. Darum bohrte ich weiter: »Wer ist denn mein Nächster?«
Maria erklärte: »Nach Jesu Lehre ist jedermann unser Nächster, sogar ein Samariter, den wir Kinder Israels als unrein betrachten. Die Sonne scheint über Böse und Gute. Böses darf nicht mit Bösem vergolten werden. Wenn einer dich auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die linke hin!«
Ich hob abwehrend beide Hände und rief: »Jetzt ist es aber genug! Verrücktere Vorschriften habe ich nie gehört, und mir ist jetzt schon klar, daß kein menschliches Wesen sie befolgen kann. Auf die Kunst der Unterweisung allerdings verstehst du, schöne Frau, dich besser als Nikodemus, der Lehrer Israels!«
Maria schlug die Augen nieder und ließ die Hände in den Schoß sinken. Leise sagte sie: »Sogar am Kreuze noch hat er seinen Vater beschworen, seinen Peinigern zu verzeihen. So haben es Ohrenzeugen berichtet.« Nach einer Weile meinte sie demütig: »Und nenne mich nicht schön! Das kränkt mich nur.«
Martha widersprach. »Sicherlich ist meine Schwester schön. Sie hatte viele Verehrer. Aber seit dem Tode unserer Eltern haben wir drei Geschwister immer zusammengelebt, unter dem Schutz unseres Bruders. Deshalb war es ein so großes Werk der Barmherzigkeit, daß Jesus zu uns kam und Lazarus wieder zum Leben erweckte. Sonst hätten wir nicht aus noch ein gewußt. Anfangs hätten wir viel Angst, die Schriftgelehrten würden aus der Stadt hierherkommen und unseren Bruder steinigen. Angedroht haben sie es. Doch jetzt, da sie Jesus getötet haben, dürften sie kaum mehr hier erscheinen. Trotzdem bin ich, so sehr ich mich auch zusammennehme, noch immer ängstlich. Jesus hat das zwar verboten, aber ich kann mir einfach nicht helfen. Ich mag nicht einmal daran denken, wie bange mir war, als Jesus darauf bestand, nach Jerusalem zu gehen und sich selber dem Tode auszuliefern.«
Ich hörte ihr nicht sehr aufmerksam zu, weil mir die aller Vernunft widerstreitende neue Lehre, die Maria mir dargelegt hatte und die wahrhaftig nicht von dieser Welt war, im Kopf herumging. Ich hatte mehr davon abbekommen, als ich auf einmal verdauen konnte. Es wäre besser gewesen, solche Grundsätze zu verlachen und sich von einem derart unsinnigen Wege fernzuhalten. Mir wurde ganz übel bei der bloßen Vorstellung, ich sollte den erstbesten Schwachkopf oder Schurken, der mir begegnete, als meinen Nächsten betrachten oder mich, ohne einen Finger zu meiner Verteidigung zu rühren, verunglimpfen lassen.