Aber Maria sagte: »Wir Schwestern wollen versuchen, unseren Kummer abzuschütteln. Auch du, Fremdling, solltest dir nicht weiter den Kopf zerbrechen! Wir wollen einfach der Dinge harren, die da kommen werden. Unser Meister hat gesagt, die Haare auf unserem Haupte seien alle gezählt, und es falle kein Sperling zur Erde, ohne daß unser aller Vater es wüßte. Warum sollten wir uns also sorgen?«
Ihre überzeugungsstarken Worte machten tiefen Eindruck auf mich. Ebenso wie ich seinerzeit, hin und her gerissen zwischen Zweifel und Glaubenssehnsucht, mich schließlich von Zeichen und Vorbedeutungen hatte leiten lassen, so erfüllte mich jetzt plötzlich das bestimmte Empfinden, ich sollte nicht allzusehr darauf erpicht sein, die Wahrheit im Nu zu erhaschen. Vielleicht wird mir im Laufe der Zeit alles offenbar, wenn ich mich damit bescheide, den Weg, auf den ich gelenkt wurde, weiterzuschreiten.
Deshalb erhob ich mich und sagte: »Jetzt habe ich euch wirklich lange genug von eurer Arbeit abgehalten. Aber ich danke euch beiden dafür, daß ihr mich so geduldig angehört und mir auf meine Fragen Bescheid gegeben habt. Friede sei mit euch!«
Martha sprang auf, schlug die Hände zusammen und rief: »Du darfst noch nicht gehen. Wie kann ich dich hungrig und durstig ziehen lassen?«
Ohne meinen Widerspruch zu beachten, ging sie in das Haus, um einen Imbiß vorzubereiten. Unterdessen saß ich, in Gedanken versunken, auf der Steinbank, und Maria kauerte auf dem Boden neben mir. Wir sprachen beide kein Wort. Aber während ein solches Schweigen auf Menschen, die einander nichts zu sagen haben, bedrückend wirkt, war es bei uns nicht so. Maria hatte mir ja im Gegenteil derart vieles gesagt, daß ich mehr gar nicht hätte in mir aufnehmen können. Einen Teil hatte ich verstanden, und das übrige mochte mir eines Tages klarwerden. Jedenfalls wäre für mich nichts gewonnen gewesen, wenn wir jetzt weitergeredet hätten. So begnügte Maria sich damit, mir zur Seite zu sein; und durch ihre Gegenwart allein floß auf mich ein Strom heiterer Gelassenheit über, die mich ihrer Nähe froh werden ließ.
Martha kam zurück und brachte in Öl getränktes und mit herben Sämereien gewürztes Brot, mit kleingehackten harten Eiern vermischtes Gemüse, gesalzenes Schaffleisch und dicken Traubensirup. Nachdem sie alles neben mich auf die Steinbank gestellt hatte, goß sie mir Wasser über die Hände und segnete die Speisen. Aber weder sie noch ihre Schwester rührten das Mahl an; auch Lazarus kam nicht mit mir essen. Bei aller Freundlichkeit dieser Leute fühlte ich mich plötzlich wie ein Aussätziger.
Die Wanderung nach Bethanien war nicht lange gewesen. Doch als ich die guten Gerichte sah, spürte ich Hunger und aß mit Appetit, während Martha neben mir saß und mich aufforderte, von jeder Speise zu nehmen und alles aufzuessen. Ich vermutete, die Schwestern würden, wenn ich etwas übrigließe, es wegwerfen, weil es von einem Fremden berührt worden war, und aß aus Höflichkeit auch noch weiter, als ich genug hatte. Schließlich trank ich von dem Wasser, das Martha mit etwas Wein versetzt hatte, und plötzlich überkam mich starke Schläfrigkeit.
Es war Mittag. Als ich fertiggegessen hatte, meinte Martha fürsorglich: »Jetzt, in der größten Hitze, brauchst du nicht an den Rückweg zu denken. Bleibe hier und ruhe ein wenig, damit wir die Pflichten der Gastfreundschaft ganz erfüllen.«
Ich fühlte mich über die Maßen erschöpft, ohne sagen zu können, ob es mehr seelische oder körperliche Müdigkeit war. Als ich aufzustehen und zu gehen versuchte, waren meine Beine bleischwer. Außerdem tat mir die Warmherzigkeit der beiden Frauen so gut, daß ich nicht die geringste Lust hatte wegzugehen. Natürlich hätte ich mich, wenn ich ernstlich gewollt hätte, jetzt verabschieden und auf den Weg machen können; aber bei meiner Abgespanntheit fand ich den bloßen Gedanken an einen Aufbruch als qualvoll. Einen Moment lang argwöhnte ich, Martha hätte in den Wein irgendein Betäubungsmittel gegossen. Doch weshalb sollte sie das getan haben? Und beim Trinken hatte ich keinen bitteren Geschmack gespürt.
»Nach Jerusalem ist es nicht weit«, sagte ich. »Aber wenn ihr es wirklich gestatten wollt, bleibe ich gern über Mittag hier. Ich fühle mich sehr wohl bei euch.«
Die beiden Frauen lächelten geheimnisvoll, als wüßten sie, was ich ihnen sagte, besser als ich. Diese Möglichkeit geheimen Wissens gab ihnen für einen Augenblick ein ganz merkwürdiges Gepräge: sie schienen nicht mehr bloße Menschen, sondern etwas Höheres. Indes flößten sie mir keine Angst ein. Ich fühlte mich eher wie ein Kind, das sich verlaufen hat und wieder heimfindet.
Sie führten mich in den Innenhof, den ein Laubdach beschattete. Obwohl mich in meiner Schlaftrunkenheit ein Gefühl der Unwirklichkeit gefangenhielt, bemerkte ich, daß ihr Anwesen größer war, als ich gedacht hatte. Es gab da mindestens vier offenbar zu verschiedenen Zeiten aufgeführte Gebäude, die den Hof umschlossen. Die Schwestern wiesen auf eine Außentreppe an dem neuesten der Gebäude, folgten mir, als ich hinaufstieg, und zeigten mir ihr Gästezimmer auf dem Dache. Es war ein kleiner, kühler Raum mit einer niedrigen, nach Zimt riechenden Schlafbank und einer Matte auf dem Boden.
Martha sagte: »Strecke dich hier aus und halte ein Mittagsschläfchen. Unser Lehrer, von dem wir dir erzählten, hat oft in dieser Kammer geruht. Nachher aber stieg er allein auf den Berg, um zu beten. Er kam und ging nach belieben. Halte es ebenso!«
In dem Zimmer waren ein Wasserkrug und ein Linnen vorbereitet. Ohne auf meinen Widerspruch zu achten, kniete Martha vor mich hin, nahm mir die Sandalen ab, wusch mir die staubigen Füße und trocknete sie mit einem Tuche.
»Warum tust du das?« fragte ich. »Du bist doch nicht meine, Magd!«
Martha sah mich wieder mit rätselvollem Lächeln an und erwiderte: »Eines Tages wirst du vielleicht jemand anderem den gleichen Dienst erweisen, ohne sein Knecht zu sein. Weißt du, ich empfinde dich als einen verwandten Menschen voll Kummer und Bedrängnis, obwohl du nach außen hin heil und gesund bist und dein Kopf den mit verschiedensten Kenntnissen vollgepfropft ist.«
Diese Worte trafen mich tief. Denn all mein Wissen war mir immer nur ein bohrender Dolch im Herzen. In ewiger Zweifelsucht flatterte mein Fragen um die Wahrheit; und beim besten Willen konnte ich mich nie zum Glauben an Dinge zwingen, die ich nicht zu glauben wünschte.
Maria sagte: »Jesus hat den gleichen Liebesdienst seinen Jüngern erwiesen, an jenem letzten Abend, als sie sich darüber zankten, wer in seinem Reich der erste werden sollte.«
Dann gingen die beiden Schwestern still hinaus, und gleich darauf fiel ich in tiefen Schlaf; so lindernd und tröstlich wirkte es auf mich, in dieser guten Stube auf dem zimtduftenden Bett zu liegen.
Als ich erwachte, hatte ich das starke Gefühl, daß ich nicht allein war, daß jemand neben mir weilte, der auf mein Erwachen gewartet hatte. Diese Empfindung war so lebhaft, daß ich mit geschlossenen Augen dalag und mich bemühte, den Fremden atmen oder sich rühren zu hören. Als ich aber die Lider aufschlug, war das Zimmer leer, und ich lag allein darin. Die Enttäuschung darüber traf mich so heftig, daß vor meinen Augen Wände und Decke des Raumes zu schwanken begannen, als wollten sie jetzt und jetzt einstürzen. Ich schloß die Augen wieder, und gleich spürte ich von neuem die Gegenwart eines anderen Wesens neben mir. Mir kam vor, ich hätte etwas Ähnliches in Jesu Gruft empfunden. Tiefer Friede erfüllte mich.
Ich dachte: In ihm selbst lag sein Reich, das auf unsere Welt kam. Nun, da er das Grab verlassen hat, wird auch sein Reich auf Erden bleiben, solange er selbst hier weilt. Vielleicht ist es die Gegenwart dieses Reiches, die ich empfinde.
Wieder schlief ich ein. Als ich jedoch neuerlich aufwachte, spürte ich die volle Last meines Körpers auf dem Bett; ich roch die Schärfe meines eigenen Schweißes und empfand die beengende Undurchdringlichkeit der Lehmmauern um mich. Bleischwer fühlte ich mich und hatte keine Lust, die Augen zu öffnen; so betrüblich war es, wieder in der Körperwelt zu erwachen.