Als ich mich schließlich dazu aufraffte, um mich zu blicken und aus der Seligkeit des Träumens in die Wirklichkeit zurückzukehren, entdeckte ich, daß ich diesmal tatsächlich nicht allein war. Eine Frau kauerte reglos auf der Matte und wartete offenbar auf mein Erwachen. Sie trug einen schwarzen Überwurf, und ihr Kopf war mit einem Schleier bedeckt, so daß ich mich zuerst fragte, ob die Gestalt überhaupt ein lebender Mensch war. Beim Betreten des Zimmers hatte ich niemanden darin bemerkt und auch später niemanden eintreten hören. Ich setzte mich am Rande des Bettes auf und spürte in allen Gliedern das Bleigewicht der Erde.
Als die Frau meine Bewegungen gewahrte, streckte sie den Rücken und lüftete den Schleier. Sie war blaß und nicht mehr jung. Die Wechselfälle des Lebens hatten wohl ihre frühere Schönheit zerstört; noch immer brannte aber eine Flamme in ihrem Gesicht. Als sie merkte, daß ich hellwach war, bedeutete sie mir mit einer unter dem Mantel versteckten Hand, ruhig sitzen zu bleiben, und begann in der heiligen Sprache der Juden kehlig zu singen. Nachdem sie eine Zeitlang so psalmodiert hatte, übersetzte sie das Vorgetragene ins Griechische.
»›Alles Fleisch ist wie Gras‹«, begann sie. »›Und alle Herrlichkeit des Menschen ist wie des Grases Blumen. Das Gras verdorret, und die Blume welkt dahin, sobald des Herrn Odem sie anhaucht. Das Gras verdorret, und die Blume welkt dahin; doch des Herren Wort bleibet in Ewigkeit.‹«
Dann sagte sie: »Wahrlich, unser Gott ist ein verborgener Gott.«
Sie blickte mich an, und in der Tiefe ihrer schwarzen Augen glühte ein Funke. Ich nickte zum Zeichen, daß ich verstand. Aber noch bedeuteten ihre Worte nichts für mich. Sie fuhr fort: »›Und der Herr sprach zu mir: Zu wenig ist's, daß du mir Knecht seist, um aufzurichten Jakobs Stamm und Israels Versprengte heimzuholen. Ich mach' dich vielmehr zum Lichte der Heiden, daß da reiche mein Heil bis ans Ende der Erde!‹«
Wie zu Beginn hatte sie das Psalmodieren in der heiligen Sprache aufgenommen, diesmal allerdings dann und wann bei einem Worte stockend, als entsänne sie sich nicht ganz des genauen Wortlauts. Dann gab sie die Verse auf griechisch wieder und fügte hinzu: »So hat der Prophet Jesaja von ihm geweissagt. Und die Stillen im Lande haben in ihrem Gedächtnis auch die Worte bewahrt: ›Verachtet war er, von den Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, mit Leiden vertraut; man verhüllte das Antlitz vor ihm, und wir verachteten ihn. Fürwahr, unsere Leiden trug er, unsere Schmerzen lud er sich auf. Verwundet ward er für unsere Frevel, gezüchtigt zu unserem Heil. Wie Schafe irrten wir alle umher, jeder wandte sich seines Weges. Aber auf ihn ließ der Herr fallen unser aller Verschuldung. Man mißhandelte ihn; er beugte sich willig und tat den Mund nicht auf.‹«
Sie schüttelte den Kopf; Tränen begannen ihr über die Wangen zu rollen. Doch mit gebrochener Stimme fuhr sie fort: »›Er verströmte seine Seele in den Tod und ließ sich unter die Frevler zählen. Er trug die Sünden der Vielen und trat für die Übeltäter als Mittler ein.‹«
Ich erinnerte mich dunkel, etwas dergleichen im vergangenen Winter in Alexandria gelesen zu haben, zusammen mit dem jüdischen Gelehrten; aber damals hatten die Worte mir nichts besagt. Die Frau kauerte sich weinend auf den Boden hin und barg ihr Gesicht in den schwarzen Überwurf, um mir ihren Kummer nicht preiszugeben.
Ich sagte: »Ja, ja. Ich verstehe, was du sagst. So wurde es prophezeit, und so traf es ein. Aber welcher Sinn liegt darin?«
Die Frau schüttelte wieder den Kopf und antwortete hinter dem Überwurf hervor: »Wir wissen es noch nicht. Wir verstehen es nicht. Aber nun gibt es nicht mehr verschiedene Wege, es braucht sich nicht jeder seines eigenen Weges zu wenden – es gibt nur einen einzigen Weg.«
Als sie den Kopf verhüllt hatte, sann ich über ihre Gesichtszüge nach und sagte schließlich: »Was gereicht dir zum Frieden, Frau? Ich glaube, ich kenne dich.«
Sie wischte sich die Tränen in den Mantel, hob wieder den Kopf, versuchte zu lächeln und erwiderte: »Auch ich habe dich erkannt. Deshalb kam ich her. Als er am Kreuz gemartert wurde, hast du einen Schriftgelehrten geschlagen und die höhnenden Gaffer beiseite gestoßen.«
Ich mußte lachen. »Nein, nein«, wehrte ich freundlich ab. »Geschlagen habe ich niemanden. Da irrst du dich sehr. Es verhielt sich so: Ich habe einen Schriftgelehrten etwas gefragt, und er ist anmaßend geworden; daraufhin habe ich mich an den Zenturio gewandt, und der hat die Spötter abgedrängt.«
Aber die Frau schüttelte heftig den Kopf und erklärte: »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie du den Lästerer schlugst, weil du dich über ihn geärgert hast, obwohl du als Fremder mit der ganzen Sache nichts zu tun hattest.«
Ich sah keine Veranlassung, mit ihr darüber zu streiten. Vor dem Tode des Judenkönigs war es ja so dunkel geworden, daß sie sich leicht getäuscht haben konnte. Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Mir kommt vor, ich habe dich dort in der Nähe seiner Mutter gesehen.«
»Ja, gewiß«, erwiderte sie. »Ich bin Maria Magdalena. Du hast von mir schon gehört. Jesus hat die bösen Geister aus mir getrieben, und seither bin ich ihm gefolgt. Er hat mir das gestattet, obwohl man es ihm übelnahm.«
Plötzlich streckte sie mir erregt die Hände entgegen, als hätte sie sich die ganze Zeit über mit Gewalt bezähmt, und rief: »Sag doch! Ich habe gehört, du bist im Auftrag des Statthalters zum Grabe gegangen und hast als erster Römer festgestellt, daß Jesus auferstanden ist. Erzähle mir davon! Bezeuge, was du gesehen hast! Mir glaubt niemand, weil ich nur eine Frau bin.«
Ich erwog meine Worte sorgfältig, da ich Maria Magdalena weder belügen noch irreleiten wollte. »Den Stein hat das Erdbeben vom Grufteingang losgerüttelt, und die Wachen wären geflohen. Ich bin mit dem Hauptmann eingetreten. Wir sahen das Grablinnen dort liegen, so wie es um den Körper gewickelt worden war, und das Schweißtuch lag in einigem Abstand; aber in der Hülle stak kein Leichnam. Als ich das sah, glaubte ich. Dann jedoch kamen die Juden und rissen in ihrer Wut das Linnen auseinander. Trotzdem glaube ich weiterhin, daß er auferstanden ist. Wie das jedoch zuging, begreife ich nicht; bisher hat sich so etwas nie ereignet.«
Sie lauschte ehrerbietig meinen Worten. Ich wollte die Dinge unvoreingenommen darstellen und fügte hinzu: »Natürlich gab und gibt es in verschiedenen Ländern Mysterien, bei denen ein Gott begraben wird und dann wieder aufersteht. Aber das ist nicht Wirklichkeit – nur eine Art frommes Schauspiel. Übrigens warst du doch vor uns beim Grabe. Berichte du jetzt darüber! Hast du den Zustand der Grabtücher bemerkt?«
Maria Magdalena verneinte durch eine Geste und erklärte: »Als ich zur Gruft kam, war es noch dunkel. Ich sah, daß der Stein nicht mehr den Eingang verschloß und dachte, jemand hätte ihn fortgewälzt. Doch in die Grabkammer traute ich mich nicht. Übrigens hätte ich drinnen wegen der Dunkelheit ohnedies nichts gesehen. Deshalb rannte ich dorthin, wo seine vertrautesten Jünger sich versteckt hielten, und führte zwei von ihnen zum Grabe: Simon Petrus, einen großen starken Mann, und den jungen Johannes, dem Jesus seine Mutter anvertraut hatte. Die beiden liefen so eilig, als ginge es um ihr Leben, traten ein, fanden die Kammer leer und gingen rasch wieder davon, aus Angst vor den Juden. Ich blieb zurück und weinte vor dem Grabe. Und nach einer Weile schaute ich in die Gruft. Sie war taghell erleuchtet; ein Engel saß drinnen, wie in Licht gekleidet und mit feurigem Antlitz, so daß ich erschrak und am ganzen Leibe zu zittern begann und zurückwich, als er mich ansprach. Dann aber bemerkte ich plötzlich den Herrn selbst, ohne ihn allerdings gleich zu erkennen.«
Ihre Schilderung stand in Widerspruch zu dem Bericht der Wachsoldaten. Sie blickte mich verständnisheischend an, als spürte sie meine Zweifel, und erklärte: »Es ist doch begreiflich, daß ich ihn nicht gleich erkannt habe. Nie wäre mir ja in den Sinn gekommen, daß er es sein könnte. Nicht einmal seine Jünger haben ihn sofort erkannt, damals, als er, über den See Genezareth wandelnd, auf ihr Boot zuschritt. Ich hielt ihn für einen Fremden, der den Leichnam fortgetragen hatte. Ich machte ihm Vorwürfe darüber und forderte ihn nachdrücklich auf, mir zu sagen, wo er ihn hingelegt hätte, damit ich ihn holen könnte. Da rief er mich beim Namen, und ich wußte, wer er war. Er trug mir eine Botschaft für die Jünger auf, und ich war so überglücklich, daß ich den Boden unter den Füßen nicht spürte, als ich die Kunde zu überbringen eilte. Aber keiner der Jünger glaubte mir.«